Walter Ulbricht wirkte heiter, fast entspannt. Am Nachmittag des 12. August 1961, einem Samstag, hatte der DDR-Staats- und SED-Parteichef einige Mitglieder des SED-Politbüros, Minister und Staatssekretäre sowie die Vorsitzenden der Blockparteien zu einer Grillparty ins Gästehaus der DDR-Regierung am Großen Döllnsee eingeladen.
Es war gegen 22 Uhr, als der starke Mann der DDR eine „kleine Sitzung“ einberief und den überraschten Teilnehmern bekannt gab, dass noch in dieser Nacht die Grenze zwischen dem Ostteil Berlins und den drei Westsektoren hermetisch geschlossen werde. „Alle einverstanden?“, fragte Ulbricht. Er wusste, es würde niemand Einspruch erheben. Der entsprechende „Beschluss“ des DDR-Ministerrats lag längst in gedruckter Form vor. „Aktion Rose“ konnte beginnen. In Berlin lagen 18 200 Betonsäulen, 150 Tonnen Stacheldraht, die zum Teil in Westdeutschland gekauft worden waren, zehn Festmeter Holz und fünf Tonnen Bindedraht bereit, die seit dem 1. August gut getarnt für den „Tag X“ herbeigeschafft worden waren.
Um sechs Uhr morgens erhielt Honecker die Nachricht
Erich Honecker, im Zentralkomitee der SED für die nationale Sicherheit zuständig, rief unverzüglich im Hauptquartier der Nationalen Volksarmee (NVA) an und erteilte DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann den Einsatzbefehl: „Die Aufgabe kennst du! Marschiert!“ Unverzüglich versetzte dieser seine Truppen in „erhöhte Gefechtsbereitschaft“, mehrere tausend Soldaten machten sich auf den Weg Richtung Berlin, um den Außenring um Westberlin abzuriegeln. Gleichzeitig erhielten 10 000 Volkspolizisten den Befehl, den gesamten Fußgänger- und Autoverkehr auf allen Straßen, die von Ost- nach Westberlin führten, zu unterbinden.
Um ein Uhr nachts schließlich, es war mittlerweile Sonntag, der 13. August 1961, begannen Pioniere unter dem Schutz bewaffneter Soldaten und Polizisten entlang der Sektorengrenze Stacheldraht zu ziehen, das Straßenpflaster aufzureißen, Barrikaden zu errichten, alle Straßen zu verriegeln und zwölf U- und S-Bahn-Linien zu unterbrechen. Um sechs Uhr morgens erhielt Erich Honecker die Nachricht, dass die provisorische Abriegelung der Grenze zwischen Ost- und Westberlin abgeschlossen sei. Erschöpft, aber erleichtert dankte Honecker seinen Mitarbeitern: „Jetzt können wir gehen.“
Die pulsierende Millionenmetropole Berlin wurde vor den Augen der ohnmächtigen Bevölkerung in zwei Teile zerrissen. Ein Staat hatte sich verbarrikadiert und seine Bevölkerung eingesperrt, um sie am Weglaufen in den freien Westen zu hindern.
Der Bau der Berliner Mauer markierte eine tiefe Zäsur in der Nachkriegsgeschichte. Er vollzog für die einstige deutsche Hauptstadt das nach, was für Deutschland insgesamt schon vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bittere Realität geworden war: Die vier Siegermächte teilten sich das Land auf und verleibten es ihrem jeweiligen Machtbereich ein. Nur Berlin, die Vier-Zonen-Stadt, blieb als eigentümlicher Anachronismus von dieser Entwicklung ausgenommen.
Zwar gab es zwei Stadtregierungen und Verwaltungen, doch ansonsten war die Stadt offen. Der Zugang in die Sektoren war frei, U- und S-Bahnen verkehrten über die Grenzen hinweg, täglich pendelten viele Tausende zwischen Ost und West. Schon Stalin hatte 1948 durch die Blockade Berlins versucht, diesem Zustand ein Ende zu setzen und ganz Berlin für sich zu gewinnen. Doch die drei Westalliierten ließen mit der Errichtung der Luftbrücke an ihrer Entschlossenheit, den freien Teil Berlins nicht kampflos preiszugeben und den Zugang in die Stadt zu verteidigen, keinen Zweifel aufkommen. Stalin musste nachgeben.
So blieb die Spree-Metropole als politisches Paradoxon bestehen: Praktisch zweigeteilt und doch unter dem Dach der vier Mächte eins, die drei West-Zonen eine Insel inmitten des Ostblocks, „Frontstadt“, „Schaufenster des Westens“, Tor zur Freiheit und „Pfahl im Fleisch der DDR“, zudem ein Tummelplatz der Spione beider Blöcke, schlicht der heißeste Ort des Kalten Kriegs. Für die DDR-Führung war dieser Zustand untragbar, seit 1952 drängte Ulbricht in Moskau immer wieder auf eine endgültige Lösung. Ende der 50er Jahre unternahm der neue Kremlchef Nikita Chruschtschow einen neuen Vorstoß, um die offene „Berlin-Frage“ zu klären.
Keine feine Lösung, aber „verdammt besser als ein Krieg“
Mit der ihm eigenen Mischung aus Drohgebärden, Druck und politischen Konzessionen kündigte er in einer Note am 27. November 1958 einseitig den Vier-Mächte-Status von Berlin auf und forderte die Wiedervereinigung der Stadt, den Abzug aller Besatzungstruppen und die Schaffung einer „Freien Stadt“, die neutral sein sollte. Zwar lehnten Washington, London und Paris das Ultimatum entschieden ab, doch es war unklar, ob sie wegen Berlin einen Krieg mit Moskau riskieren würden. Die deutsche Frage stand ein Jahrzehnt nach der Teilung wieder ganz oben auf der Tagesordnung der Politik.
1960/61 verschärfte sich die Situation in und um Berlin dramatisch. Versorgungsengpässe in der DDR, die Folgen der übereilten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und der beginnenden Verstaatlichung des privaten Gewerbes, ein härterer Kurs der SED und die Verunsicherung über die Zukunft der noch immer offenen Stadt Berlin ließen die Flüchtlingszahlen rapide anschwellen. Waren es 1959 noch 144 000 Menschen gewesen, die die DDR verließen, stieg die Zahl 1960 auf knapp 200 000 an und blieb unverändert hoch, allein in den ersten beiden Augustwochen 1961 waren es gut 40 000. Ulbricht, ermuntert durch den Kurs Chruschtschows, drängte auf eine definitive Lösung, die für ihn nur heißen konnte: Schließung der Berliner Grenze – „sonst sei der Zusammenbruch unvermeidbar“.
Doch ausgerechnet der Kremlchef zögerte. Er wollte zwar seinen wichtigen Bündnispartner DDR nicht zur Disposition stellen, aber auch nichts unternehmen, was die Westmächte provoziert hätte und zu einem Krieg führen könnte. Hatte doch der neue US-Präsident John F. Kennedy am 25. Juli 1961 unmissverständlich klargestellt, dass die USA zum Äußersten bereit seien, um ihre Anwesenheit in Westberlin, den freien Zugang von und nach Westberlin und die Freiheit der Westberliner zu verteidigen. Gleichzeitig signalisierte er jedoch, dass die USA sich mit der Sicherung des Staus quo im Westteil abfinden würden.
Chruschtschow verstand diesen versteckten Hinweis. Anfang August gab er dem DDR-Staats- und Parteichef grünes Licht für den Mauerbau, bei einer Konferenz vom 3. bis 5. August segneten auch die Generalsekretäre der kommunistischen Parteien der Warschauer-Pakt-Staaten die Abriegelung ab. Ulbricht hatte erreicht, was er immer wollte. Zum Entsetzen der Westberliner verhielten sich sowohl die drei Westmächte wie auch die Regierung Adenauer völlig passiv. Die Mauer, meinte US-Präsident Kennedy hinterher, sei zwar „keine feine Lösung, aber eine Mauer ist immerhin verdammt besser als ein Krieg“.
Erst 28 Jahre, zwei Monate und 27 Tage später, am 9. November 1989, fiel die Mauer wie ein Kartenhaus in sich zusammen – weil Kremlchef Michail Gorbatschow weder ökonomisch in der Lage noch politisch bereit war, weiterhin seine schützende Hand über den Vasallenstaat DDR zu halten.