Der Informant, den das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt in eine Gruppe um den Hassprediger Abu Walaa eingeschleust hat, ist sein Geld offenbar wert. Seit mehr als einem Jahrzehnt tummelt sich der Mann, der im Behördendeutsch als „Vertrauensperson (VP) 01“ geführt wird, schon in der islamistischen Szene, als er am 15. November 2015 zum ersten Mal von einem gewissen „Anis“ berichtet, der damit prahle, er könne jederzeit Schnellfeuergewehre für einen Anschlag beschaffen. Von einem „kleinen Wumms“ sei dabei die Rede gewesen, meldet der Spitzel, etwa einem Attentat auf ein Polizeirevier, und von einem „großen Wumms“, einem Anschlag im Namen des Islamischen Staates. Abu Walaa gilt als dessen Statthalter in Deutschland.
13 Monate später erschießt eben jener Anis Amri, der unter mindestens 14 verschiedenen Namen Asyl oder Sozialleistungen in Deutschland beantragt hat, in Berlin einen polnischen Lkw-Fahrer und rast mit dessen Truck in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. Elf Besucher sterben dort, weitere 55 werden teilweise schwer verletzt.
Ein V-Mann lieferte wertvolle Hinweise zu Anis Amri
Die Frage, ob dieser „große Wumms“ hätte verhindert werden können, versucht unter anderem ein Untersuchungsausschuss des Bundestages aufzuklären – und mit nahezu jedem Zeugen, den er vernimmt, verdichten sich die Hinweise auf Versäumnisse und Fehleinschätzungen in den beteiligten Sicherheitsbehörden. Selbst die vergleichsweise banale Gelegenheit, Amri wenigstens wegen Drogenhandels zu verhaften, lassen sie verstreichen. Als der Tunesier am 19. Dezember 2016 in Berlin den Lkw einer polnischen Spedition kapert und zur tödlichen Waffe macht, hat ihn kein Geheimdienst und kein Kriminalamt mehr auf dem Radar.
An „Vertrauensperson 01“ liegt das nicht, so viel scheint sicher. Die Mitteilungen des V-Mannes seien von Tag zu Tag konkreter geworden, berichtet eine Ermittlerin aus dem Düsseldorfer Landeskriminalamt im Untersuchungsausschuss. Eine Zeugin aus dem Staatsschutz-Kommissariat sagt: „Er war kein kleiner Fisch, sondern einer, den man schon ernst genommen hat.“ Warum damals nicht schon ein Ermittlungsverfahren gegen Amri eingeleitet wurde? Unklar. Offenbar hält das Bundeskriminalamt die Quelle für wenig glaubwürdig.
BKA hält Informant für "kaum glaubhaft"
Dass ein Islamist wie Amri, der einen Anschlag vorbereitet, so offen darüber rede: Das widerspreche jeder Erfahrung, sagt ein leitender Beamter aus Wiesbaden. Nachdem „VP 01“ zuvor schon über eine angebliche Todesliste mit im Ausland lebenden Irakern berichtet hatte, ist man beim Bundeskriminalamt noch skeptischer. Ein Informant, der binnen kürzester Zeit zweimal an so brisante Informationen komme, sei „kaum glaubhaft“. In Düsseldorf kommt das nicht gut an. Das Bundeskriminalamt, argumentieren die Beamten dort, habe die Ermittlungen gegen Amri faktisch sabotiert. Auch die Bitte, die Ermittlungen doch selbst zu übernehmen, habe das BKA mehrfach abgelehnt.
Die beteiligten Behörden hätten die Gefährlichkeit von Amri völlig unterschiedlich eingeschätzt, kritisiert auch der Augsburger Abgeordnete Volker Ullrich, der für die CSU im Untersuchungsausschuss sitzt. Obwohl es ein gemeinsames Terrorabwehrzentrum gibt, hätten der Verfassungsschutz, das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter Berlin und Nordrhein-Westfalen nicht den gleichen Kenntnisstand gehabt. Kurz: Die einen hielten Amri für einen Mitläufer, die anderen für einen Terroristen. So sei er weder hinreichend überwacht noch rechtzeitig außer Landes geschafft worden, sagt Ullrich. Inzwischen weiß man auch: Der Einzeltäter Amri war kein einsamer Wolf, der sich heimlich, still und leise radikalisiert hat, sondern bestens vernetzt in der islamistischen Szene.
Anschlag am Breitscheidplatz: Behörden räumen schwere Fehler ein
Der Präsident des Berliner Landeskriminalamtes, Christian Steiof, hat schon vor Monaten „fatale handwerkliche Fehler“ und „organisierte Verantwortungslosigkeit“ eingeräumt. Im Fall Amri sei „alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte“. An diesem Donnerstag, dem 3. Jahrestag des Anschlages, wird die frühere Leiterin des Berliner Staatsschutzes vor dem Ausschuss aussagen – auch sie hat schon zugegeben, den Ernst der Lage nicht erkannt zu haben. Sie habe damals, sagt sie etwas umständlich, „die Gefährlichkeit des Amri bezüglich eines islamistischen Terroranschlages nicht als hoch eingeschätzt“.
Offen ist auch noch die Frage, warum die Observation Amris im Juni 2016 eingestellt wurde, obwohl sie bis Oktober angeordnet war. Und warum holten Beamten des Berliner Landeskriminalamtes Amri wenige Monate vorher in Friedrichshafen zur Überprüfung seiner Personalien aus einem Bus, obwohl die Kollegen aus Düsseldorf darum gebeten hatten, ihn diskret zu beschatten?
Auch zwei Warnungen des marokkanischen Geheimdienstes, dass Amri einen Anschlag plane, versanden damals im Apparat. Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger behauptet später gar, man habe bei der Observation den Eindruck gewonnen, dass Amri sich vom Dschihadismus wieder entferne. Tatsächlich steht der 23-Jährige in engem Kontakt mit der Terrormiliz IS.
V-Mann 01 lebt inzwischen im Zeugenschutzprogramm
Vor allem im Berliner Landeskriminalamt ist offenbar vieles schiefgelaufen. In einer der letzten Vernehmungen beklagt sich ein Ermittler aus Nordrhein-Westfalen vor dem Ausschuss unter anderem über die Wurstigkeit der Berliner, die an dem Fall nicht interessiert und mit dem Sachverhalt auch überfordert gewesen seien. Irgendwann habe man sich mit ihnen nur noch schriftlich verständigt, weil sie sich an mündliche Verabredungen nicht gehalten hätten. Nach dem Anschlag stellt sich dann sogar heraus, dass in Berlin Akten über Amri manipuliert wurden – ob aus Schlamperei oder aus Vorsatz, um eigene Versäumnisse zu vertuschen, bleibt unklar.
Am 23. Dezember wird Anis Amri in der Nähe von Mailand von einer Polizeistreife erschossen, nachdem er bei einer Routinekontrolle das Feuer auf die Beamten eröffnet hat. V-Mann 01 wird vor dem Untersuchungsausschuss nicht aussagen. Er lebt inzwischen in einem Zeugenschutzprogramm.
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