Alexander Lukaschenko probte für ein paar Stunden die Rolle rückwärts. Sicherheit und Ruhe im Land würden überschätzt, erklärte der belarussische Machthaber am Samstag, zu Beginn des vierten großen Protestwochenendes gegen seine Dauerherrschaft. Und dann bediente sich der 66-Jährige auch noch rhetorisch bei Bill Clinton. „Es ist die Wirtschaft, Dummkopf“, lautete einst dessen Wahlspruch, mit dem er zum US-Präsidenten aufstieg. Lukaschenko formulierte es so: „Ich habe schon immer gesagt, dass es nur auf die Wirtschaft ankommt. Sicherheit, Stabilität, Ideologie – alles Weitere ergibt sich von selbst, wenn die Wirtschaft brummt.“
Auch am Sonntag gingen in Belarus wieder Zehntausende auf die Straße
Der seit 1994 autoritär regierende Lukaschenko sagte die Sätze ausgerechnet vor Mitgliedern seines Sicherheitsrats. Umso mehr klang es nach einem neuen Ansatz im Ringen mit der Opposition, die seit der Präsidentenwahl am 9. August gegen massiven Betrug bei der Stimmauszählung protestiert. Auch am Sonntag gingen wieder zehntausende Menschen in allen größeren Städten von Belarus auf die Straßen, um für Neuwahlen und die Freilassung aller politischen Gefangenen zu demonstrieren. Doch da hatte Lukaschenko sein Verständnis von Sicherheit schon wieder überdacht. Schwer bewaffnete Trupps der Sonderpolizei Omon sperrten mit Panzerwagen zentrale Teile der Hauptstadt Minsk ab und versuchten zu verhindern, dass sich die Demonstrierenden zu dem angekündigten „Marsch der Einheit“ zusammenschlossen.
Im Laufe des Nachmittags spielten sich dann ähnliche Szenen ab wie bereits an den Wochenenden zuvor. Omon-Polizisten prügelten vereinzelt mit Schlagstöcken auf Menschen ein und nahmen ohne erkennbaren Anlass Protestierende fest. Im Großen und Ganzen ließen sie die Lukaschenko-Gegner aber gewähren, die ihrerseits betont friedlich auftraten. In Weiß und Rot gehüllt, in die Farben der belarussischen Unabhängigkeit von 1917, zogen sie durch die Straßen von Minsk und Grodno, Gomel, Brest und auch durch viele kleinere Städte.
Wie lange halten die Proteste in Belarus an?
Vielfach skandierten sie das legendäre Musketier-Motto: „Einer für alle, alle für einen“. Auf den Schildern, die sie mitführten, waren die Schlagworte „Freiheit und Solidarität, Gerechtigkeit und Wahrheit“ zu lesen. Ein Nachlassen des Widerstandswillens war nicht zu erkennen. Beobachter gehen inzwischen davon aus, dass die Proteste mindestens noch bis zur Vereidigung Lukaschenkos am 9. November andauern dürften. Dann will der 66-Jährige seine sechste Amtszeit als Präsident antreten. „Aktuell ist so etwas wie eine Pattsituation entstanden“, erklärt der russische Menschenrechtsaktivist Oleg Koslowski, der die Proteste in den vergangenen Wochen vor Ort verfolgt hat. Er ist sich sicher: „Die Leute werden nicht klein beigeben. Sie werden wiederkommen und immer wiederkommen.“ Auf der anderen Seite zeigten sich aber „im Unterdrückungsapparat keine Risse“.
Tatsächlich gehen Polizei, Militär und Geheimdienste seit Wochen koordiniert gegen die Opposition vor, die ihrerseits Mühe hat, die Reihen geschlossen zu halten. Das belegte am Wochenende der Fall von Olga Kowalkowa, einer engen Vertrauten der Lukaschenko-Herausforderin Swetlana Tichanowskaja. Kowalkowa meldete sich am Samstag in Polen zu Wort, wohin sie von belarussischen Sicherheitskräften in einer Nacht- und Nebelaktion abgeschoben worden war. „Nun bin ich in Freiheit, aber nicht mehr in meinem Heimatland“, erklärte die 36-Jährige und berichtete von Psychofolter im belarussischen Polizeigewahrsam. Ihr sei eine „sehr, sehr lange Haft“ angedroht und medizinische Hilfe verweigert worden.
Doch immer mehr Belarussen fragen sich auch, ob sie nicht einen Weg in die Emigration suchen sollen. Warum, lesen Siein unserem Kommentar.
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