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Belarus: Protasewitsch-Interview im Staatsfernsehen: „Eine Geisel des Regimes“

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Protasewitsch-Interview im Staatsfernsehen: „Eine Geisel des Regimes“

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    War vor knapp zwei Wochen in Minsk an Bord eines Ryanair-Passagierflugzeugs festgenommen worden: Roman Protassewitsch.
    War vor knapp zwei Wochen in Minsk an Bord eines Ryanair-Passagierflugzeugs festgenommen worden: Roman Protassewitsch. Foto: Uncredited/ONT channel/AP/dpa

    Zwei Stühle, zwei Menschen, eine Kamera. Vor dem tiefschwarzen Hintergrund zeichnen die Scheinwerfer nur die Silhouetten der Oberkörper nach. Man kennt solche Szenen von Talkshow-Formaten. Hier jedoch, im staatlichen belarussischen Sender ONT, kann von einem TV-Duell keine Rede sein. Das zeigt schon der Einstieg: „Haben Sie sich freiwillig zu diesem Interview bereit erklärt?“, fragt Moderator Marat Markow. „Absolut.“

    Roman Protasewitsch zögert keine Sekunde. Aber er schließt bei der Antwort die Augen und schüttelt den Kopf. „Und wie fühlen Sie sich?“, will Markow wissen. „Es geht mir ausgezeichnet.“ Wieder schließt Protasewitsch die Augen. Dann fügt der 26-Jährige einige Floskeln an und versucht ein Lächeln. Man werde ihn in der belarussischen Opposition nach diesem Auftritt vermutlich als Verräter verdammen, fährt er schließlich fort. Aber das sei ihm egal. Er wolle endlich die Wahrheit bekennen.

    Roman Protasewitsch: Entführt aus einem Ryanair-Jet

    Man muss kein Psychologe oder Experte für Körpersprache sein, um die erzwungene Inszenierung dieses anderthalbstündigen „Interviews“ schon in den ersten 120 Sekunden zu durchschauen. Man braucht nur hinzuhören, hinzusehen und dazu ein wenig Hintergrundwissen. Vor allem muss man das weithin Bekannte in Rechnung stellen: Dass belarussische Sicherheitskräfte den Regimegegner Protasewitsch vor knapp zwei Wochen aus einem Linienflugzeug entführt haben, nachdem die Luftwaffe den Ryanair-Jet zur Landung in Minsk gezwungen hatte.

    Die Eltern von Roman Protassewitsch vermuten, dass ihr Sohn im Gefängnis misshandelt und zu Aussagen gezwungen wird.
    Die Eltern von Roman Protassewitsch vermuten, dass ihr Sohn im Gefängnis misshandelt und zu Aussagen gezwungen wird. Foto: -/Telegram/Social Media/dpa

    Man muss außerdem wissen, dass in den Haftanstalten der ehemaligen Sowjetrepublik gefoltert wird und „Terroristen“ die Todesstrafe durch Genickschuss droht. Nicht zuletzt muss man berücksichtigen, dass der gekidnappte Protasewitsch genau unter diesem Vorwurf des Terrorismus seit dem 23. Mai in einem der Foltergefängnisse einsitzt und deshalb mit Sicherheit nicht frei entscheiden kann, was er in einem staatlichen Sender vor laufender Kamera sagt.

    Zum Beispiel erklärt er, dass es im vergangenen Sommer in Belarus einen „Aufstand“ der Opposition gegen Alexander Lukaschenko gegeben habe, der das Land seit bald 27 Jahren regiert. Die EU und die USA erkennen den Dauermachthaber seit der nachweislich gefälschten Wahl im August 2020 und der blutigen Niederschlagung der folgenden Proteste nicht mehr als Präsidenten an. Protasewitsch dagegen bekennt sich vor der Kamera dazu, einer der Drahtzieher der „Massenunruhen“ gewesen zu sein. Geld sei geflossen. Dollar. Euro. An anderer Stelle lobt er Lukaschenko: „Ich verstehe jetzt, dass viele Dinge, für die er kritisiert wird, lediglich Versuche sind, ihn unter Druck zu setzen.“ Inzwischen bewundere er Lukaschenko, sagt Protasewitsch. Fragesteller Markow nickt.

    Protasewitsch-Interview: Der Fragesteller gehört zum inneren Zirkel der Macht in Minsk

    Auch das sollte man im Übrigen zur Einordung wissen: Markow leitet nicht nur den Staatssender ONT, den Kritiker als reines Propagandaorgan des Regimes bezeichnen. Der bullige Mann mit den schwarzen Augen und dem haarlosen Telly-Savalas-Kopf war vor seiner Fernsehkarriere Vizechef der Ideologischen Abteilung von Lukaschenkos Präsidialverwaltung. Er gehört also zum inneren Zirkel der Macht in Minsk. Berücksichtigt man dies und die Lage seines Gesprächspartners, dann deutet alles darauf hin, dass dieses sogenannte Interview mit Protasewitsch das Ergebnis von „Missbrauch, Folter und Drohungen“ ist. So ordnet es der Vater des 26-Jährigen nach der Ausstrahlung am Donnerstagabend ein. „Sie haben ihn gebrochen und gezwungen, zu sagen, was sie hören wollten.“ Insbesondere das Lob für Lukaschenko sei unglaubwürdig. „Ich kenne meinen Sohn. Er würde so etwas nie [freiwillig] sagen.“

    Ähnliche Einschätzungen äußern auch Menschenrechtler und führende Repräsentanten der belarussischen Opposition. „Es ist schmerzhaft, dieses ‚Geständnis‘ zu sehen“, schreibt etwa Franak Wiatschorka bei Twitter. Der Vertraute von Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja fügt hinzu, Protasewitsch sei „Geisel des Regimes, und wir müssen alles Erdenkliche tun, ihn und die anderen 460 politischen Häftlinge [in Belarus] zu befreien“. Tichanowskaja, die bei der Wahl im vergangenen August gegen Lukaschenko angetreten war, war damals selbst vom Geheimdienst KGB zu einem Bekenntnisvideo und zum Gang ins litauische Exil gezwungen worden. Ihr Berater Wiatschorka spricht nun von einer Vorführung Protasewitschs im „Göbbels-TV“.

    Weniger drastisch, aber ebenso unmissverständlich äußert sich der Leiter der belarussischen Menschenrechtsorganisation „Wjasna“, Ales Bjaljazki. „Es ist reine Propaganda“, urteilt der Träger des Vaclav-Havel-Preises des Europarates. Protasewitsch sei „mindestens psychisch bedroht“. Unter welchem Druck der 26-Jährige steht, zeigt das inszenierte Gespräch mit Markow. Am Ende der anderthalbstündigen Aufzeichnung kündigt Protasewitsch, sichtlich am Rande der körperlichen Erschöpfung, mit erstickter Stimme an, nicht länger politisch aktiv sein zu wollen. Er wünsche sich nichts als ein normales Leben mit Frau und Kindern. Dann rollt eine erste Träne über die Wange. „Verzeihung“, ist das letzte geflüsterte Wort, dass er noch hervorpresst.

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