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Belarus: Kampfansage der Opposition in Belarus: "Wir vergessen nicht"

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Kampfansage der Opposition in Belarus: "Wir vergessen nicht"

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    Swetlana Tichanowskaja kandidierte bei der Präsidentenwahl in Belarus gegen Amtsinhaber Lukaschenko.
    Swetlana Tichanowskaja kandidierte bei der Präsidentenwahl in Belarus gegen Amtsinhaber Lukaschenko. Foto: Sergei Grits/AP, dpa (Archiv)

    Jemand hat in der Nacht eine Flagge aufs Eis gemalt. Meterweit zieht sich die weiß-rot-weiße Spur auf dem Fluss dahin. Es sind die Farben der Opposition in Belarus. Ohne Risiko war das kleine Kunstwerk kaum zu schaffen. Denn die Eisflächen sind brüchig in diesem nicht sehr kalten Winter in der Hauptstadt Minsk. Auf Straßen und Plätzen ist es nicht sicherer. Wer dort etwas aufmalt, läuft Gefahr, von der Sonderpolizei Omon verhaftet und womöglich gefoltert zu werden. Und dennoch. Die Übermacht des Regimes von Diktator Alexander Lukaschenko schreckt die empörten Menschen in Belarus so wenig ab, wie es die Risse im Eis tun.

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    Von dem Mut zeugen die vielen Bilder, die über den Messenger Telegram Verbreitung finden. In einem Park in Minsk zum Beispiel hat jemand die dünne Schneedecke weggefegt, um zwischen das unschuldige Weiß mit roter Farbe eine Kampfansage auf den Boden zu malen: „Wir vergessen nicht!“ Es ist noch längst nicht vorbei, soll das heißen. 2021 machen wir weiter. Und überhaupt: Die Bezeichnung Opposition sei falsch, findet Swetlana Tichanowskaja. „Wir sind in der Mehrheit“, sagt die 38-Jährige, die bei der Präsidentschaftswahl im August Dauermachthaber Lukaschenko herausforderte und die Freiheitsrevolte erst ins Rollen brachte.

    Wer vorausschauen will, wie es in Belarus weitergehen könnte, muss sich diese Szenen aus dem Sommer vergegenwärtigen. Wie Tichanowskaja im Wahlkampf vor Zehntausende tritt und sich erst einmal entschuldigt. „Ich bin keine Politikerin“, sagt die Lehrerin und zweifache Mutter, die für ihren inhaftierten Mann Sergei antritt, einen regimekritischen Blogger. „Ich will Präsidentin werden, damit alle politischen Gefangenen freikommen.“ Allmählich wird sie mutiger. „Es reicht mit der Angst.“ Irgendwann reckt sie die Faust in den Himmel: „Es ist Zeit, Widerstand zu leisten.“ Der Rest geht in Jubel unter.

    Swetlana Tichanowskaja hielt während ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Sacharow-Preises im Europäischen Parlament ein Bild des belarussischen Politikers Nikolaj Statkewitsch hoch.
    Swetlana Tichanowskaja hielt während ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Sacharow-Preises im Europäischen Parlament ein Bild des belarussischen Politikers Nikolaj Statkewitsch hoch. Foto: John Thys, dpa (Archivbild)

    Bei der Wahl am 9. August sind keine Beobachter zugelassen. Doch die Menschen spüren sofort, was unabhängige Recherchen später bestätigen: Die 80 Prozent für den Amtsinhaber, die als Ergebnis verkündet werden, sind eine Fantasiezahl. Zehntausende gehen gegen den Betrug auf die Straßen und rufen: „Hau ab, Lukaschenko!“ Der Diktator aber denkt nicht daran, abzutreten. Stattdessen lässt er seinen martialischen Worten aus dem Wahlkampf noch brutalere Taten folgen: „Im Zweifel wird geschossen.“ Blendgranaten explodieren. Tränengas füllt die Straßen. Gummigeschosse zerfetzen Gliedmaßen. Wer nicht schnell genug ist, auf den prügeln Omon-Polizisten ein. Doch die Menschen lassen sich nicht länger einschüchtern. Sie kommen wieder. Und wieder. Es folgen Blutnächte. Hunderte Verletzte und 7000 Inhaftierte sind die Bilanz. Für die Gefangenen ist es nicht vorbei: Belarus erlebt Terror und Folter.

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    Das Regime zwingt Tichanowskaja ins litauische Exil. Ihre wichtigste Mitstreiterin Maria Kolesnikowa zerreißt an der Grenze zur Ukraine ihren Pass und lässt sich lieber ins KGB-Gefängnis werfen als deportieren. Bald sind alle Mitglieder des oppositionellen Koordinierungsrats inhaftiert oder im Ausland. Aber es ändert alles nichts. Es bleibt eine Zeit des Aufbruchs in Belarus. Jeden Sonntag überwinden Zehntausende aufs Neue ihre Angst und protestieren.

    Längst ist klar, dass Lukaschenko nicht freiwillig weichen wird. „Ich lasse keine Kapitulation zu, selbst wenn sie mich töten“, sagt er und zeigt sich mehrfach mit Kalaschnikow in der Hand. Die EU erkennt ihn nicht länger als Präsidenten an und verhängt Sanktionen, ist aber machtlos. Daran ändert auch der Sacharow-Menschenrechtspreis nichts, den das EU-Parlament an die belarussische Opposition verleiht.

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    Ales Beljazki und das Menschenrechtszentrum Wesna (Belarus): Die Lage in Belarus (Weißrussland) und die Proteste gegen den autoritären Machthaber Alexander Lukaschenko werden von der Welt seit Wochen genau verfolgt. Der 58-Jährige Beljazki hat sich schon viele Jahre vorher für die Demokratie und Freiheit in seinem Land eingesetzt, lange bevor die dortige Situation in diesem Sommer international in die Schlagzeilen geraten ist. Der Aktivist und das von ihm gegründete Zentrum Wesna sind so zu Leuchttürmen der Menschenrechte in einem Land geworden, das oft als «die letzte Diktatur Europas» bezeichnet wird. Auch Verhaftungen und mehrere Jahre im Gefängnis hielten ihn nicht davon ab, weiter für seine Ideale einzustehen - auch und gerade während der Großproteste nach der umstrittenen Präsidentenwahl. Wesna ist zudem einer der wichtigsten Kanäle, der über die Festnahmen der Demonstranten berichtet.

    Nasrin Sotudeh (Iran): Zuletzt kämpfte sie vor Gericht unter anderem für Frauen, die aus Protest gegen die iranische Gesetzeslage in der Öffentlichkeit ihre Kopftücher abgenommen hatten. Diese Frauen sind bei Weitem nicht die einzigen, für die sich Sotudeh eingesetzt hat: Die in Teheran geborene Rechtsanwältin verteidigte bereits nach der umstrittenen Präsidentschaftswahl 2009 während der Proteste gegen die Regierung eine Reihe von verhafteten Aktivisten, später vertrat sie die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi. Außerdem ist ihr der Kampf gegen die Todesstrafe im Iran eine Herzensangelegenheit. All das hat die 57-Jährige mehrmals ins Gefängnis gebracht, dort sitzt sie auch heute: Im März 2019 war sie unter anderem wegen «Schürens von Korruption und Prostitution» zu mehr als drei Jahrzehnten Haft und fast 150 Peitschenhieben verurteilt worden. Auch ihre Familie berichtet von Festnahmen und schwerwiegenden Übergriffen.

    Bryan Stevenson (USA): Immer wiederkehrende Fälle übermäßiger Polizeigewalt und die Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter haben die Rassismusdebatte in den USA in diesem Sommer abermals hochkochen lassen. Für Bryan Stevenson ist das Thema alles andere als neu: Der 60-Jährige zählt zu den führenden Bürgerrechtsanwälten seines Landes, oberstes Ziel seines Schaffens ist seit langem die Reform der US-Strafjustiz, die übermäßig viele Schwarze und Arme ins Gefängnis bringt. Der in Harvard ausgebildete Jurist will eines Tages sehen, dass alle US-Bürger unabhängig von der Hautfarbe die gleichen Rechte genießen. Grundlage seines Kampfes ist der Ausgangspunkt, dass Justiz und Gesellschaft vor dem Hintergrund der Geschichte der Sklaverei und weißer Überlegenheitsgesinnungen weiter von systematischem Rassismus durchdrungen seien.

    Lottie Cunningham Wren (Nicaragua): Die 61 Jahre alte Rechtsanwältin gehört selbst dem indigenen Volk der Miskito an, das vor allem an der Karibikküste im nicaraguanischen Grenzgebiet zu Honduras lebt. Vor diesem Hintergrund kämpft Cunningham trotz regelmäßiger Einschüchterungsversuche dafür, dass Indigene in Nicaragua ihr Land und die damit verbundenen Ressourcen behalten dürfen und besser vor Ausbeutung geschützt sind. Dabei ist es ihr unter Zuhilfenahme nationaler und internationaler Gesetze gelungen, dass es mittlerweile Landrechte für indigenen Boden in ihrem Heimatland gibt - ein Fortschritt, der auch indigenen Gemeinschaften in anderen Ländern bei ihrem rechtlichen Streit für den Schutz ihres Lebensraums nützt. Das hilft letztlich auch der Umwelt, da der Schutz indigenen Landes auch bedeutend für die entsprechenden Ökosysteme ist. (dpa)

    Zumal Wladimir Putin den „gewählten Präsidenten“ in Minsk unterstützt, wenn auch zögerlich. Den Sturz eines Machthabers in der Nachbarschaft will er nicht dulden. Aber er fordert von Lukaschenko Reformen und einen Dialog mit dem Volk. Der geschwächte Diktator verspricht eine neue Verfassung – bis Ende 2022, wie er am Wochenende ankündigte. Es könnte ein Referendum geben oder Neuwahlen. Tichanowskaja spricht von einer Farce. Lukaschenko wolle die Menschen erneut täuschen und Zeit für sich gewinnen. Aber auch neutralere Beobachter wie der Minsker Politik-Analyst Alexander Klaskowski halten das Vorhaben für eine Scheinveranstaltung.

    „Das wird ein Pseudodialog mit Pseudoopposition“, sagt Klaskowski. Wenn es ein Referendum geben sollte, dann „nach demselben Muster wie bei der Präsidentschaftswahl. Anders könne Lukaschenko keine Abstimmung in Belarus mehr gewinnen, denn die Opposition sei tatsächlich in der Mehrheit, wie es Tichanowskaja sagt. Aber reicht das? Sicher scheint zu Winterbeginn nur: Es wird im Frühjahr eine zweite Protestwelle geben. Klaskowski prophezeit deshalb: „Der Wandel in Belarus wird noch sehr dramatisch.“

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