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Belarus: Einflussreiche Lukaschenko-Gegnerin verschleppt

Belarus

Einflussreiche Lukaschenko-Gegnerin verschleppt

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    Von der belarussischen Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa fehlt seit Montag jede Spur.
    Von der belarussischen Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa fehlt seit Montag jede Spur. Foto: dpa

    Ein schwarzer Kleinbus stoppt abrupt. Maskierte Männer in Zivil springen heraus und zerren eine Frau mit kurzen blonden Haaren vom Gehweg auf die Ladefläche. Augenzeugen sind sicher, die belarussische Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa erkannt zu haben. Dann rast das Fahrzeug davon. All das geschieht am helllichten Tag, am Montag kurz nach 10 Uhr in Minsk. Von diesem Zeitpunkt an ist Kolesnikowa telefonisch nicht mehr zu erreichen. Auch der Kontakt zu ihrem Sprecher Anton Rodnenkow und einem weiteren Vertrauten bricht ab. Alle drei bleiben verschwunden, mutmaßlich verschleppt von Spezialkräften des Regimes von Alexander Lukaschenko.

    Davon sind die Menschen in Kolesnikowas Umfeld überzeugt. Aber auch der litauische Außenminister Linas Linkevicius, dessen Behörde die Lage im Nachbarland intensiv im Blick hat, twittert schon kurz nach den Meldungen aus Belarus: „Die Entführung von Maria Kolesnikowa im Zentrum von Minsk ist eine Schande. Im Europa des 21. Jahrhunderts werden stalinistische Methoden angewendet.“ Linkevicius fordert ihre sofortige Freilassung. Die belarussischen Behörden fühlen sich nicht angesprochen, dementieren eine Verhaftung. Man versuche, etwas über den Aufenthaltsort der Vermissten herauszufinden.

    In Minsk ist Maria Kolesnikowa das bekannteste Gesicht der Proteste

    Beim Blick auf die Ereignisse der vergangenen Wochen drängen sich allerdings andere Schlüsse auf. Denn die 38-Jährige ist ja nicht irgendwer. Sie gehört zu jenen Frauen, die den seit 1994 autoritär regierenden Lukaschenko bei der Präsidentschaftswahl am 9. August mit verblüffender Durchschlagskraft herausgefordert haben. Als Kandidatin trat dann die 37-jährige Swetlana Tichanowskaja an und versammelte so unerwartet viele Stimmen auf sich, dass Lukaschenko das Ergebnis nach Einschätzung internationaler Experten in großem Stil fälschen ließ. Seither reißen die landesweiten Massenproteste in Belarus nicht ab. Und Kolesnikowa ist in Minsk ihr bekanntestes Gesicht.

    Als die Nachricht von ihrem Verschwinden die Runde macht, haben viele Menschen noch die Bilder vom Sonntag im Kopf: Hunderttausende Regimegegner sind am vierten Protestwochenende in Folge durch die Straßen aller größeren Städte gezogen. Aber auch in abgeschiedenen Regionen fordern die Menschen den Rücktritt Lukaschenkos und faire Neuwahlen. Das Regime reagiert mit kompromissloser Härte, auch wenn sich die Methoden geändert haben. Nach den blutigen Gewalteinsätzen der Sonderpolizei Omon in den ersten Tagen nach der Wahl häufen sich nun Berichte über gezielte Festnahmen und Vertreibungen von Oppositionellen aus dem Land. Tichanowskaja nennt die Aktion am Montag schlicht „Terror“.

    Belarus: Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja wurde ins Exil gezwungen

    Rückblick: Tichanowskaja wird zwei Tage nach der Wahl von Verhörspezialisten zum Gang ins Exil nach Litauen gezwungen. Veronika Zepkalo, eine zentrale Figur im Wahlkampf, flieht nach Moskau. Am Samstag meldet sich Tichanowskajas engste Vertraute Olga Kowalkowa in Polen zu Wort und berichtet, wie sie von Sonderpolizisten einer Psychofolter unterzogen worden war: „Dann haben sie mir eine Kapuze über den Kopf gezogen, mich in ein Auto verfrachtet und über die Grenze gefahren.“

    Daher zweifeln nur regimetreue Kommentatoren an einer Beteiligung der Staatsmacht an Kolesnikowas Verschwinden, zumal die 38-Jährige im Koordinierungsrat der Opposition eine zentrale Rolle spielt. Vor wenigen Tagen hat sie die Gründung der Partei „Wmestje“ (Miteinander) bekannt gegeben. Die Kulturmanagerin und Flötistin, die unter anderem an der Musikhochschule in Stuttgart ausgebildet wurde, hatte erst den Wahlkampf des Ex-Bankchefs Viktor Babariko geleitet. Nach der Verhaftung des aussichtsreichsten Lukaschenko-Herausforderers schloss sie sich Tichanowskaja an. Auch andere Vertreter des Koordinierungsrates sitzen in Haft.

    Das Regime hat noch immer keine Strategie gegen die Proteste gefunden

    Die in Belarus geborene Politikwissenschaftlerin Olga Dryndowa, die an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen arbeitet, hält das Vorgehen der Staatsmacht für ein Zeichen der Ratlosigkeit. Offenkundig habe diese „bislang keine Strategie gefunden, um die Proteste zu beenden“. Dryndowa zeichnet ein Bild von der Lage in Belarus, das nicht auf ein schnelles Abebben der Revolte hindeutet. „Die Bewegung ist dezentral und wächst von unten. Sie lernt sehr schnell. Es entstehen ständig neue Formen der solidarischen Selbstorganisation in Minsk und auf regionaler Ebene. Der Koordinierungsrat in Minsk ist kein vertikales Element für Steuerung der Proteste.“ Deswegen sei auch Kolesnikowas Verschwinden eher nicht als entscheidender Schlag gegen die Opposition zu werten. „Der Protest wird im Zweifel auch ohne sie weitergehen. Die Aktion wird die Empörung und den Unmut im Land womöglich noch anfachen.“

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