Jemand hat in der Winternacht eine Flagge auf das Eis gemalt. Mehrere Meter zieht sich die weiß-rot-weiße Spur auf dem Fluss Swislatsch dahin. Es sind die Farben der Opposition in Belarus. Ohne Risiko war das kleine Kunstwerk kaum zu schaffen. Denn die Eisflächen sind brüchig in diesem nicht sehr kalten Dezember in der Hauptstadt Minsk. Auf Straßen und Plätzen ist es allerdings auch nicht sicherer. Wer dort etwas aufmalt, läuft Gefahr, von der allgegenwärtigen Sonderpolizei Omon verhaftet und womöglich gefoltert zu werden. Und dennoch: Die Übermacht des Regimes von Diktator Alexander Lukaschenko schreckt die existenziell erschütterten Menschen in Belarus inzwischen so wenig ab, wie Risse im Eis.
Anfang der Woche hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Swetlana Tichanowskaja in Berlin empfangen und sich hinter die verzweifelt für ihre Freiheit kämpfenden Menschen in Belarus gestellt. Die 38-Jährige, die bei der Präsidentschaftswahl im August Dauermachthaber Lukaschenko herausforderte und die Freiheitsrevolte in Belarus damit erst ins Rollen brachte, forderte von Deutschland eine Aufhebung der Visumspflicht. Verfolgte hätten so die Möglichkeit, in Sicherheit zu gelangen, sagte sie dem Spiegel. „Wenn Menschen eingesperrt und zusammengeschlagen werden, dann ist das der Moment, in dem Deutschland und andere Länder nachdenken sollten: Sind sie vorsichtig oder folgen sie den Prinzipien der Demokratie?“
Swetlana Tichanowskaja will mehr EU-Sanktionen gegen Belarus-Führung
Die 38-Jährige forderte zudem eine Ausweitung der EU-Sanktionen gegen den Machtapparat von Staatschef Alexander Lukaschenko. „Die Strafmaßnahmen wirken lächerlich, wenn wir sehen, wie viele Menschen bis jetzt festgenommen wurden. Mehr als 30 000 sind es seit August.“ Es gebe viele Worte der Unterstützung. „Wir brauchen aber Taten.“
Wer vorausschauen will, wie es in Belarus im neuen Jahr weitergehen könnte, muss sich die Szenen aus dem vergangenen Sommer noch einmal vergegenwärtigen. Wie Tichanowskaja im Wahlkampf vor Zehntausende Menschen tritt und sich erst einmal entschuldigt. „Ich bin keine Politikerin“, sagt die Lehrerin und zweifache Mutter, die für ihren inhaftierten Mann Sergei antritt, einen regimekritischen Blogger. „Ich will nur Präsidentin werden, damit alle politischen Gefangenen freikommen.“ Danach werde es eine Neuwahl geben, ohne sie. Doch allmählich wird sie mutiger. „Es reicht mit der Angst.“ Irgendwann reckt sie die Faust in den Himmel: „Es ist Zeit, Widerstand zu leisten.“
Noch in der Nacht nach der Wahl am 9. August gehen Zehntausende gegen den offensichtlichen Wahlbetrug auf die Straßen und rufen: „Hau ab, Lukaschenko!“ Der Diktator allerdings denkt gar nicht daran, abzutreten. „Im Zweifel wird geschossen“, hatte er gedroht.
Nach den Protesten: Seit der Wahl herrscht in Belarus ein Terror-Regime
Direkt nach der Wahl ist es soweit. Blendgranaten explodieren. Tränengas füllt die Straßen. Gummigeschosse zerfetzen Gliedmaßen. Wer nicht schnell genug ist, auf den prügeln Omon-Polizisten ein. Doch die aufgebrachten Menschen lassen sich nicht einschüchtern. Es folgen drei weitere Blutnächte. Hunderte Verletzte und 7000 Inhaftierte sind die Bilanz. Und für die Gefangenen ist es noch nicht vorbei. Schläge und Schlafentzug, stundenlanges Stehen, Todesdrohungen auch gegen Angehörige, gegen Kinder und Frauen: Belarus erlebt Tage des Terrors.
Das Regime zwingt Tichanowskaja ins litauische Exil. Ihre wichtigste Mitstreiterin Maria Kolesnikowa zerreißt an der Grenze zur Ukraine ihren Pass und lässt sich lieber ins KGB-Gefängnis werfen als deportieren. Ende September sind alle Mitglieder des oppositionellen Koordinierungsrats entweder inhaftiert oder im Ausland. Aber es ändert alles nichts. Es bleibt eine Zeit des Aufbruchs in Belarus. Jeden Sonntag überwinden Zehntausende aufs Neue ihre Angst und protestieren. Erst im November wird es ruhiger. Die Gewalt, so scheint es, hat vorerst gesiegt. Zu dem Zeitpunkt ist auch längst klar, dass Lukaschenko nie freiwillig weichen wird.
EU erkennt Lukaschenko nicht als Präsidenten in Belarus an
Die EU erkennt Lukaschenko nicht als Präsidenten an und verhängt Sanktionen, ist aber machtlos. Daran ändert auch der Sacharow-Menschenrechtspreis nichts, den das EU-Parlament an die belarussische Opposition verleiht. Am Mittwoch hat Tichanowskaja die Auszeichnung in Brüssel entgegengenommen. Wladimir Putin unterstützt den „gewählten Präsidenten“ in Minsk weiter, wenn auch zögerlich. Der Kremlchef ist kein Freund von Lukaschenko. Aber den Sturz eines Machthabers durch Massenproteste will er in der eigenen Nachbarschaft nicht dulden. Zugleich jedoch fordert Putin von Lukaschenko Reformen und einen Dialog mit dem Volk.
Der geschwächte Diktator hat nun eine neue Verfassung versprochen. Ende Januar soll eine „Volksversammlung“ zusammenkommen. Anschließend werde es ein Referendum und möglicherweise Neuwahlen geben. Tichanowskaja spricht von einer Farce. Aber auch neutralere Beobachter wie der Minsker Politik-Analyst Alexander Klaskowski halten das Vorhaben für eine Scheinveranstaltung mit handverlesenem Personal.„Das wird ein Pseudodialog mit Pseudoopposition“, sagt Klaskowski. Wenn es ein Referendum geben sollte, dann „nach demselben Muster wie bei der Präsidentschaftswahl. Anders könne Lukaschenko keine Abstimmung in Belarus mehr gewinnen. Aber reicht das?
Sicher scheint zu Winterbeginn nur: Es wird im Frühjahr eine zweite Protestwelle geben. Denn die Menschen in Belarus werden „nicht vergessen“, was sie in diesem Jahr des Aufbruchs und der Gewalt erlebt haben. Klaskowski prophezeit deshalb: „Der Wandel in Belarus wird noch sehr dramatisch.“
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