Der Baustart ist eher symbolischer Art. Am 2. Februar 2010 hebt unter den Augen der Politikprominenz ein Bagger den Prellbock mit der Nummer 049 von seinem angestammten Gleis im Stuttgarter Hauptbahnhof und transportiert ihn ein Stück ins Gleisvorfeld. 400 Gäste, darunter Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU), Bahnchef Rüdiger Grube und Ministerpräsident Günther Oettinger, sind zum Feiern gekommen. Zwei Bahnsteige weiter drängen sich hunderte Demonstranten, die mit Pfeifen, Vuvuzelas und „Lügenpack“-Rufen lautstark die Redner stören. An der Unversöhnlichkeit hat sich zehn Jahre später wenig geändert: Die Befürworter freuen sich, dass der Bau endlich Form annimmt. Die Gegner treffen sich am heutigen Montag – also einen Tag nach dem Jubiläum – zur 500. Montagsdemonstration auf der Straße vor dem Hauptbahnhof.
, lastet bereits eine lange und wechselvolle Geschichte auf dem Milliardenprojekt. 1994 machen sich die Deutsche Bahn, die baden-württembergische Landesregierung und die Stadt Stuttgart ein Konzept des Verkehrswissenschaftlers Gerhard Heimerl aus den 80er Jahren zu eigen: Aus dem Stuttgarter Kopfbahnhof mit 17 Gleisen soll eine unterirdische Durchgangsstation mit acht Gleisen werden. Zur Erschließung sind 59 Kilometer Tunnelröhren notwendig. Nach der Fertigstellung werden 100 Hektar bisheriges Gleisvorland frei, die zum großen Teil für Wohnungsbau und neue Büroflächen verplant sind. Allein der Verkauf der Grundstücke soll gut eine Milliarde Euro zur Finanzierung beisteuern.
Stuttgart 21 wird zum abschreckenden Beispiel für Missmanagement
Trotzdem gibt es schnell Zweifel an der Wirtschaftlichkeit. 1999 stoppt Grube-Vorvorgänger Johannes Ludewig die Planungen der Bahn erst einmal. Land und Landeshauptstadt müssen tief in die eigenen Kassen greifen, um das Projekt doch noch aufs Gleis zu bringen. Inzwischen gilt Stuttgart 21 zusammen mit dem Flughafen Berlin als besonders abschreckendes Beispiel für Missmanagement und Kostensteigerungen bei öffentlichen Großprojekten in Deutschland.
Schon im Oktober 2009 geht der Protest auf die Straße. Bei der ersten Montagsdemonstration treffen sich vier Menschen, die vor dem Nordflügel Hauptbahnhofs ein paar Kerzen anzünden. Zur Massenbewegung wird der Widerstand im August 2010, als die Bagger unter massivem Polizeischutz den Nordflügel abreißen. 400 Menschen werden bei der Räumung des angrenzenden Parks durch Schlagstöcke, Wasserwerfer und Pfefferspray verletzt. Am 9. Oktober erreicht der Protest seinen Höhepunkt, als nach Schätzung der Polizei 63.000 Menschen demonstrieren. Die Parkschützer gehen von 150.000 Teilnehmern aus. Ende März 2011 später erreichen die Grünen bei der Landtagswahl in Stuttgart 34,5 Prozent, drei Prozentpunkte mehr als die CDU. Ihr Widerstand gegen Stuttgart 21 ist ein zentraler Faktor, der die Grünen im konservativen Baden-Württemberg an die Macht bringt.
Die Bevölkerung stimmt mit klarer Mehrheit für Stuttgart 21
Zugleich wird das Milliardenprojekt zur Sollbruchstelle der neuen grün-roten Koalition, weil die SPD immer Befürworter war und davon nicht abrücken will. Die Regierung lässt das Volk ihren Konflikt entscheiden: Mit 57,9 Prozent bringt die Volksabstimmung eine klare Mehrheit für das Projekt. Die regierenden Grünen entscheiden sich danach für die – mehr oder weniger – konstruktive Unterstützung des Projekts. Mit den sichtbaren Fortschritten beim Bau verlieren die Gegner Rückhalt in der Bevölkerung. Anfang 2020 kommen 64.000 Interessierte zum Tag der offenen Tür, mehr als doppelt so viele wie im Jahr davor. Bei den Montagsdemonstrationen verlieren sich zwischen 300 und 500 Menschen auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Zur Jubiläumsdemo am Montag dürfen sie sich wieder einmal vor dem Hauptbahnhof selbst versammeln, mit 3000 Teilnehmern rechnet Organisator Matthias von Hermann.
Eigentlich wissen die Gegner, dass sie das Projekt nicht mehr verhindern können. Der bekannte Schauspieler Walter Sittler ist eines der Gesichter des Widerstands und sagt: „Natürlich wird der Bahnhof irgendwann und irgendwie funktionieren.“ Der harte Kern der Gegner beharrt dagegen auf vagen Alternativen, um den Glauben an einen Baustopp irgendwie begründen zu können. Derzeit lässt das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 prüfen, ob man die Tunnel auch für die innerstädtische Güterzustellung nutzen könnte. „Was zerstört ist, soll Grundlage für einen Umstieg sein“, beharrt Bündnissprecher Werner Sauerborn.
Die Kosten für Stuttgart 21 haben sich auf 8,2 Milliarden Euro verdoppelt
Bei Grünen-Verkehrsminister Winfried Hermann, einst profilierter Gegner des Projekts, hört sich die Einsicht in die Realität inzwischen ganz anders an: „Der Bahnhof wird einhalten, was er für 2030 verspricht.“ Aber das reiche halt nicht, um das neue politische Ziel einer Verdopplung des öffentlichen Verkehrs zu erreichen. Deshalb seien weitere Verbesserungen an den mittlerweile 35 Jahre alten Planungen notwendig. Aktuell geht es um den Bau von zwei zusätzlichen Gleisen auf der Zulaufstrecke von Norden her. Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht eher das große Ganze: „Ich persönlich sehe es so, dass durch die Volksabstimmung der Konflikt befriedet wurde.“
In den letzten zehn Jahren haben sich die veranschlagten Gesamtkosten in mehreren Stufen auf 8,2 Milliarden Euro verdoppelt. Seit zwei Jahren hält der Bahnvorstand diese Zahl. Der Bundesrechnungshof und die Gegner rechnen schon länger mit zehn Milliarden. Nach der letzten Prognose soll der Bahnhof zum Fahrplanwechsel im Dezember 2025 in Betrieb gehen. Auch wenn der Termin gehalten wird, gibt es danach noch viele Provisorien, weil der Flughafenbahnhof nicht fertig sein wird, ebenso wenig der Tunnelring unter der Stadt. Unsicher ist auch die Fertigstellung des im Stadtteil Untertürkheim geplanten Abstellbahnhofs. Dort hat die Umsiedlung von mehreren tausend Eidechsen zu jahrelangen Verzögerungen geführt. Auch kleine Tiere können ein großes Projekt entscheidend ausbremsen.
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