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BGH-Entscheid: BGH ermöglicht Verfolgung von Auschwitz-Gehilfen

BGH-Entscheid

BGH ermöglicht Verfolgung von Auschwitz-Gehilfen

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    Der frühere SS-Mann Oskar Gröning.
    Der frühere SS-Mann Oskar Gröning. Foto: Axel Heimken (dpa)

    Mehr als sieben Jahrzehnte nach dem Holocaust macht der Bundesgerichtshof (BGH) einen SS-Wachmann und Buchhalter für 300 000 Morde in Auschwitz mitverantwortlich. Damit ist der 95-jährige Oskar Gröning rechtskräftig zu vier Jahren Haft verurteilt. Aber der am Montag veröffentlichte Beschluss entscheidet über mehr als das Schicksal eines Mitläufers. (Az. 3 StR 49/16)

    Was macht den Fall Gröning so besonders?

    Das Dilemma hat Gröning 2005, lange vor dem Prozess in Lüneburg, selbst in einem "Spiegel"-Interview beschrieben: "Schuld hängt eigentlich immer mit Taten zusammen, und da ich meine, ein nicht tätiger Schuldiger geworden zu sein, meine ich auch, nicht schuldig zu sein." Gröning war überzeugter Nationalsozialist, er meldete sich mit 19 freiwillig zur SS. Dass er durch die Abkommandierung nach Auschwitz dem Fronteinsatz entkam, war ihm sehr recht. Dort wurden fast 900 000 Menschen gleich nach der Deportation in den Gaskammern ermordet oder erschossen. Gröning wusste das, aber er tötete nicht mit eigenen Händen. Er sammelte das Geld der Opfer ein und schickte es nach Berlin. In Uniform und mit Waffe beaufsichtigte er auch die Ankunft neuer Transporte "an der Rampe". Also: Schuldig oder nicht?

    Wie ist die deutsche Justiz mit Menschen wie Gröning umgegangen?

    Das hängt sehr davon ab, in welchen Lagern sie ihren Dienst verrichteten. Bei den vier Vernichtungslagern Sobibor, Treblinka, Kulmhof und Belzec, die rein für den nationalsozialistischen Massenmord errichtet wurden, waren sich die Richter einig. "Hier hat die Rechtsprechung schon immer anerkannt, dass jeder Dienst, der dort geleistet wird, diese Morde unterstützt und deswegen als Beihilfe strafbar ist", erläutert Jens Rommel, Leiter der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Schwieriger war es mit Auschwitz und Majdanek, wo Häftlinge, die dazu körperlich in der Lage waren, auch Zwangsarbeit verrichten mussten. Denn hier lässt sich der Zusammenhang schwieriger herstellen.

    Welche Rolle spielt dabei der BGH?

    Die höchsten deutschen Strafrichter bestätigen 1969 den Freispruch eines Lagerarztes aus Auschwitz. In dem Urteil steht, dass nicht "jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert" war, "für alles Geschehene verantwortlich" ist. Das bringt die Verfolgung der Nazi-Handlanger von Auschwitz und Majdanek faktisch zum Erliegen. Über Jahrzehnte wird das Urteil so verstanden, dass Schuldsprüche wegen Beihilfe hier nur bei einem konkreten Tatnachweis möglich sind, also zum Beispiel wenn jemand die Munition für eine Erschießung gereicht hat. Für das Internationale Auschwitz Komitee hat Deutschland die meisten Täter davonkommen lassen, "weil man über Jahrzehnte die mörderische und perfide Gesamtstruktur des Lagersystems nicht sehen wollte".

    Was brachte die Wende?

    2011 verurteilt das Landgericht München John Demjanjuk zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord an 28 000 Juden. Der gebürtige Ukrainer war Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, damit ist hier die Bewertung eigentlich unstrittig. Trotzdem ist der späte Prozess gegen den früheren Wachmann, der Jahrzehnte im Ausland lebte, ein neuer Impuls für die Arbeit der Nazijäger. Die Zentrale Stelle, die bei NS-Verbrechen die Vorermittlungen führt, fühlt sich ermutigt, es nach langer Zeit noch einmal zu versuchen. Sie nimmt sich systematisch die Verbrechen von Auschwitz und Majdanek vor. Insgesamt knapp 60 Namen werden den zuständigen Staatsanwaltschaften übergeben. In vielen Fällen verläuft das im Sande - die Beschuldigten sind inzwischen tot oder verhandlungsunfähig. Aber zwei Urteile zu Auschwitz gibt es: gegen Gröning 2015 und gegen den Wachmann Reinhold Hanning 2016.

    Warum ist die BGH-Entscheidung so wichtig?

    Mit dem Beschluss bestätigen die Karlsruher Richter die Linie von Rommel und dessen Kollegen. Erstmals ist höchstrichterlich klargestellt, dass Menschen wie Gröning durch die "allgemeine Dienstausübung in Auschwitz bereits den Führungspersonen in Staat und SS Hilfe leisteten". Sie formten demnach die für den Holocaust unerlässliche "strukturierte und organisierte "industrielle Tötungsmaschinerie" mit willigen und gehorsamen Untergebenen". Die Anwälte 50 jüdischer Nebenkläger von Lüneburg sehen darin "eine wichtige Korrektur der früheren Rechtsprechung". Der BGH sieht sich hingegen "nicht in Widerspruch" zum Urteil von 1969. Bei Gröning gehe es um 300 000 konkretisierte Morde, nicht um "alles Geschehene".

    Was bedeutet das für die weitere Verfolgung von NS-Verbrechen?

    Die Zentrale Stelle hat inzwischen begonnen, auch systematische Morde in anderen Konzentrationslagern aufzuarbeiten. Darin sieht sich Rommel bestärkt. Hätte der BGH das Gröning-Urteil gekippt, "wäre es kaum möglich gewesen, Leute noch zur Verantwortung zu ziehen". Von Anja Semmelroch, dpa

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