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Augsburger Polizistenmord: Ein Zugriff aus dem Nichts

Augsburger Polizistenmord

Ein Zugriff aus dem Nichts

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    Polizeibeamte durchsuchen  am Donnerstagnachmittag einen Hof in Friedberg. Zwei Monate nach dem Augsburger Polizistenmord wurde hier offenbar einer der beiden mutmaßlichen Täter festgenommen.
    Polizeibeamte durchsuchen am Donnerstagnachmittag einen Hof in Friedberg. Zwei Monate nach dem Augsburger Polizistenmord wurde hier offenbar einer der beiden mutmaßlichen Täter festgenommen. Foto: Silvio Wyszengrad

    Es ist ruhig, verdächtig ruhig. Nichts dringt in den vergangenen Tagen aus der Soko "Spickel" der Augsburger Polizei nach außen. Zwei Monate nach dem Mord an ihrem Kollegen Mathias Vieth (41) scheint es, als ob die Ermittler mit leeren Händen dastehen.

    Doch im Hintergrund läuft die Polizeiarbeit auf Hochtouren. Seit Tagen sind Spezialkräfte in der Stadt unterwegs. Gestern schlagen sie zu: In Augsburg und in der Nachbarstadt Friedberg werden zwei Männer festgenommen. Nach Informationen unserer Zeitung sind es Rudi R. (58) und ein 53-jähriger Bruder. Die Ermittler der Soko sind sich offenbar sicher: Sie haben endlich die Männer, die verantwortlich sind für den Tod ihres Kollegen. Und sie haben vermutlich einen unfassbaren Fall aufgedeckt.

    Um 14.03 Uhr gibt die Polizei gestern per E-Mail die Erfolgsnachricht bekannt. Dürre 16 Zeilen ist die Pressemitteilung lang. Zwei Verdächtige seien gefasst, steht darin. Sie seien von den Einsatzkräften überrascht worden und hätten keinen Widerstand geleistet. Es gibt keine Angaben zu Alter, Nationalität und Vorleben der beiden Männer. Offiziell bekannt wird nur, dass sie nichts mit der Russenmafia und rechtsradikalen Kreisen zu tun haben.

    Nach Informationen unserer Zeitung gibt es aber einen unglaublichen Zusammenhang: Einer der verdächtigen Männer, Rudi R., hat vor Jahrzehnten einen Polizisten erschossen. Der Fall spielt ebenfalls in Augsburg, im März 1975, bei einer nächtlichen Kontrolle an der Autobahn. Damals stirbt der 31-jährige Polizeiobermeister Bernd-Dieter Kraus. Rudi R. wird später als Todesschütze verurteilt. Angeblich sitzt R. 18 Jahre hinter Gittern.

    Polizei und Justiz schweigen

    Der Mord am Augsburger Polizisten Mathias Vieth

    Der Augsburger Polizeibeamte Mathias Vieth wird am frühen Morgen des 28. Oktober 2011 im Augsburger Siebentischwald von unbekannten Tätern erschossen.

    Der Streifenbeamte und seine Kollegin wollen an diesem Freitagmorgen gegen drei Uhr auf einem Parkplatz am Augsburger Kuhsee ein Motorrad mit zwei Männern kontrollieren.

    Die beiden Verdächtigen flüchten sofort in den nahen Siebentischwald, die Beamten nehmen mit ihrem Streifenwagen die Verfolgung auf.

    Im Wald stürzen die Motorradfahrer. Dann kommt es zu einem Schusswechsel zwischen Beamten und Tätern. Der 41-jährige Polizeibeamte wird trotz Schutzweste tödlich am Hals getroffen, seine Kollegin durch einen Schuss an der Hüfte verletzt.

    Die Täter flüchten. Eine anschließende Großfahndung, an der sich mehrere hundert Polizeibeamte beteiligen, bleibt ohne Erfolg.

    Die Augsburger Polizei richtet noch am gleichen Tag eine Sonderkommission ein. Der Soko "Spickel", benannt nach dem Augsburger Stadtteil, in dem die Tat geschah, gehören zunächst 40 Beamte an.

    Zwei Tage nach dem Polizistenmord geben die Ermittler bekannt, dass das Motorrad der beiden Täter in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober 2011 im Stadtgebiet von Ingolstadt gestohlen worden war. Dabei wurde die rund 15 Jahre alte Honda kurzgeschlossen.

    Drei Tage nach dem tödlichen Schusswechsel rückt die Polizei erneut mit einem Großaufgebot im Augsburger Spickel an. Taucher von Polizei und Feuerwehr suchen in den Kanustrecken des Eiskanals nach Gegenständen.

    Am 3. November wird Mathias Vieth bestattet. Am gleichen Tag stockt die Polizei die Soko "Spickel" auf 50 Beamte auf. Zugleich wird die Belohnung, die zur Aufklärung des Polizistenmordes ausgesetzt ist, auf 10.000 Euro erhöht.

    Ein Abgleich von DNA-Spuren, die am Tatort gesichert werden konnten, mit der bundesweiten DNA-Datenbank ergibt laut Polizei keinen Treffer.

    Am 7. November findet im Augsburger Dom die offizielle Trauerfeier für Mathias Vieth statt. Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann nimmt an ihr teilt.

    Zehn Tage nach dem Augsburger Polizistenmord greift die Sendung "Aktenzeichen XY" den Fall auf. Zwar gehen daraufhin mehrere Hinweise ein, eine heiße Spur ist aber nicht darunter.

    Dezember 2011: Die Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen, wird auf insgesamt 100.000 Euro erhöht.

    Am 29. Dezember 2011 nimmt die Polizei in Augsburg und Friedberg zwei Verdächtige fest. Es handelt sich um die Brüder Rudi R. (56) und Raimund M. (58). Schnell wird bekannt: Der Jüngere hat bereits 1975 einen Augsburger Polizisten erschossen.

    Nach der Festnahme entdecken die Fahnder etliche Waffen und auch Sprengstoff. Belastet wird einer der Verdächtigen durch DNA-Spuren, die am Tatort gefunden wurden.

    Auf die Spur der beiden Männer kamen die Ermittler über ein Fahrzeug. Der Wagen war in Tatortnähe beobachtet worden. Im Zuge der Ermittlungen stellte sich heraus, dass die beiden Brüder des Öfteren mit diesem Wagen unterwegs waren.

    Mitte Januar ergeht auch Haftbefehl gegen die Tochter von Raimund M.. Bei ihr wurden Anfang Januar drei Schnellfeuergewehre und acht Handgranaten gefunden, die ihr Vater und dessen Bruder Rudi R. versteckt haben sollen.

    Im Juli 2012 wird die Tochter von Raimund M. verurteilt. Das Gericht spricht sie wegen Verstößen gegen das Waffen- und Kriegswaffengesetz, wegen Geldwäsche, Hehlerei und Diebstahl schuldig.

    August 2012 Die Augsburger Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen die Brüder Raimund M., 60, und Rudi R., 58, wegen Mordes am Polizisten Mathias Vieth. Außerdem listet die Anklage fünf Raubüberfälle auf.

    Es zeichnet sich ein Mammutprozess ab. Das Landgericht Augsburg setzt mehr als 49 Verhandlungstage an.

    21. Februar 2013: Der Mordprozess gegen die Brüder beginnt unter großen Sicherheitsvorkehrungen - und mit einem Eklat. Rudi R. beschimpft den Staatsanwalt als "Drecksack".

    August 2013: Das Gericht hat den Mordkomplex abgearbeitet und beginnt mit der Beweisaufnahme zu den Raubüberfällen. Viele Beobachter rechnen mit einem Mordurteil.

    September 2013: Ein Gutachter stellt fest, dass sich M.s Gesundheitszustand nach 15-monatiger Isolationshaft so verschlechtert hat, dass er verhandlungsunfähig ist.

    November 2013: Das Gericht setzt den Prozess gegen M. aus. Er bleibt vorerst in Haft. Gegen seinen Bruder Rudi R. wird normal weiterverhandelt.

    Februar 2014: Rudi R. wird zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sieht bei ihm eine besondere Schwere der Schuld und ordnet die anschließende Sicherungsverwahrung an.

    September 2014: Der neue Prozess gegen Raimund M. beginnt.

    Februar 2015: Der Bundesgerichtshof bestätigt das Augsburger Urteil gegen Rudolf R.

    Und jetzt, 36 Jahre nach dem Mord, soll derselbe Mann womöglich wieder getötet haben? Warum? Polizei und Justiz schweigen dazu. Details soll es erst heute um 14 Uhr auf einer Pressekonferenz geben. „Es geht darum, die Ermittlungen in dieser wichtigen Phase nicht zu gefährden“, sagt ein Ermittler. „Deshalb soll so wenig wie möglich bekannt werden.“ Die Verdächtigen werden gestern Mittag ins Polizeipräsidium an der Gögginger Straße gebracht. Dort werden sie zum ersten Mal befragt. Doch zunächst schweigen sie, heißt es. Im Lauf des heutigen Tages werden die Männer wohl dem Haftrichter vorgeführt. Der Richter entscheidet, ob die Beweise ausreichen, um die Männer in Untersuchungshaft zu nehmen. Offenbar sind sich die Ermittler ihrer Sache aber sehr sicher. Die Verdächtigen sind angeblich schon einige Zeit observiert worden, ehe gestern der Zugriff erfolgt.

    Passanten berichten, ein Mann sei von Polizeikräften im Augsburger Stadtteil Lechhausen in seinem Auto überwältigt worden, als der Wagen an einer roten Ampel stoppte. Die Polizei bestätigt das zunächst nicht. Der zweite Verdächtige wird in der Nachbarstadt Friedberg von Einsatzkräften überrascht. Dort durchsuchen Beamte stundenlang einen alten, dem Verfall preisgegeben Bauernhof.

    Die Polizisten nehmen unter anderem das Wohnhaus, die heruntergekommene Scheune und die Werkstatt unter die Lupe. Ein Nachbar vermutet, die Täter könnten etwas in dem Anwesen versteckt haben. Der Hof, rund 100 Meter vom Möbelhaus Segmüller entfernt, sei leicht zugänglich und schlecht gegen Eindringlinge gesichert. Der Nachbar will sich gar nicht vorstellen, dass sich ein Polizistenmörder direkt vor seiner Haustür aufgehalten haben könnte.

    In dem Bauernhaus lebt ein etwa 65 Jahre alter Mann. Der Friedberger Stadtrat Andreas Ziegenaus arbeitet in einer Mühle direkt neben dem Anwesen. Er könne sich nicht vorstellen, dass der Mann etwas mit dem Fall zu tun hat, sagt er. Ein anderer Nachbar sagt kopfschüttelnd: „Er ist die Harmlosigkeit in Person.“ Nach Informationen unserer Zeitung ist der Landwirt ein Verwandter des Brüderpaars.

    Verfolgungsjagd im Siebentischwald

    Dient der Hof den mutmaßlichen Tätern als ein Versteck? Suchen sie hier Unterschlupf in jener Nacht auf den 28. Oktober? Mathias Vieth wird da im Augsburger Siebentischwald auf einem Waldweg erschossen. Er und seine 30 Jahre alte Kollegin kontrollieren kurz vor 3 Uhr auf dem Parkplatz des nahen Kuhsees zwei Männer mit einem Motorrad, die ihnen verdächtig erscheinen. Doch das Motorrad rast davon. Erst durch ein Wohngebiet, dann über die Brücke eines Lechwehrs, die eigentlich nur für Fußgänger und Radler gedacht ist.

    Auf dem Hochablasswehr verlieren die Polizisten das Motorrad kurz aus den Augen, holen es aber wieder ein. Nach einer Verfolgungsfahrt über eine Forststraße und einen Waldweg stürzen die Motorradfahrer. Mathias Vieth steigt aus dem Streifenwagen und wird aus der Dunkelheit des Waldes heraus beschossen, aus zwei verschiedenen Waffen. Angeblich ist dabei eine Maschinenpistole oder ein Sturmgewehr aus Osteuropa im Spiel.

    Der Polizeihauptmeister trägt eine Schutzweste, doch mehrere Kugeln treffen ihn in Kopf, Brust und Unterleib. Seine Kollegin erleidet einen Streifschuss. Beide Polizisten feuern noch zurück, doch die Männer entkommen zu Fuß. Mathias Vieth stirbt am Tatort. Wenige Stunden später müssen Polizisten der Familie die schlimme Nachricht überbringen. Der Polizist hinterlässt seine Ehefrau und zwei Söhne.

    Hunderte Beamte durchkämmen tagelang das Waldgebiet, Hubschrauber kreisen über der Stadt, mehrere Verdächtige werden kontrolliert – alles ohne Erfolg. Die Soko „Spickel“ setzt danach vor allem auf die Spuren, die am Tatort gefunden werden.

    Das zurückgelassene Motorrad ist eine solche wichtige Spur, auch das Visier eines Motorradhelms. Hunderten Hinweisen aus der Bevölkerung geht die Kripo nach. Die Ermittler prüfen auch die Daten von Handys, die zur Tatzeit in Tatortnähe aktiv waren. Außerdem sichern sie am Tatort Genmaterial, das von einem Mann stammt. Zunächst hilft ihnen auch das nicht weiter. Doch die DNA-Spur ist ein Trumpf, sie kann ein entscheidender Beweis in einem Gerichtsprozess sein.

    „Wir werden die Täter bekommen“, verspricht ein Beamter der Soko wenige Stunden nach dem Mord. So, wie es derzeit aussieht, haben die Ermittler Wort gehalten.

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