Herr Lindner, sind Sie zufrieden, dass es in der Corona-Krise nun immer mehr Lockerungen gibt?
Christian Lindner: Es geht um unser Land. Und um die Menschen, die tief greifende Freiheitseinschränkungen in den letzten Wochen hinnehmen mussten. Solche Eingriffe in Grundrechte sind immer nur dann gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig sind. Daran haben wir schon länger Zweifel gehabt. Es ist gut, wenn es eine Perspektive gibt hin zu einer anderen Krisenstrategie. Wir werden noch länger mit Corona umzugehen haben. Aber inzwischen bin ich davon überzeugt, dass all das, was erarbeitet worden ist, einen anderen Umgang mit dieser Bedrohung zulässt: der Vorbereitungsstand des Gesundheitswesens, dass wir alle viel über Hygiene gelernt haben, die Versorgung mit Schutzmaterialien, ebenso wie hoffentlich bald auch eine App zur Nachverfolgung der Infektionsketten.
Haben wir bereits einen Status der Beherrschbarkeit des Virus erreicht?
Lindner: Ich glaube, dass schon vor einer Woche oder 14 Tagen die tief greifenden Einschnitte in unsere Grundrechte nicht mehr verhältnismäßig waren. Die Entscheidung für Lockerungen – selbst in Bayern – ist gut und richtig. Wir sind inzwischen in eine Situation geraten, wo die Folgen der Pandemiebekämpfung inzwischen größere Risiken bergen als das Coronavirus. Ich mache das fest im gesundheitlichen Bereich an verschobenen und unterlassenen Operationen und geschlossenen Reha-Einrichtungen. Auch wenn Menschen dauerhaft Angst um ihren Arbeitsplatz oder ihre wirtschaftliche Existenz haben, nehmen sie Schaden an der Seele. Wir sind jetzt vorbereitet und haben gelernt, mit dem Virus umzugehen. Da ist eine restriktive und repressive Politik nicht mehr angemessen.
Laut Robert-Koch-Institut droht eine zweite, eventuell sogar auch eine dritte Welle mit möglicherweise schlimmeren Folgen, als wir sie bislang erlebt haben. Ist das keine Sorge, die Sie umtreibt?
Lindner: Doch. Aber mit Risiken muss man umgehen. Man muss sie abschätzen und dann politisch auch Vorbereitungen treffen. Ich möchte mir da keine Angst mehr machen lassen. Wir haben alle an Sensibilität gewonnen und werden in einer zweiten Welle nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch im Alltag mit Hygiene und Abständen damit umgehen können. Wir können zudem regional reagieren in den Gegenden, wo es einen neuen Infektionsherd gibt, mit einem lokalen Shutdown. Aber wir müssen nicht mehr das ganze Land in einem Zustand des Stillstands halten. Wenn es in Passau ein starkes Infektionsgeschehen gibt, muss man nicht auf einer Nordseeinsel die Hotels schließen. Man muss da eingreifen, wo es Infektionen gibt. Wenn wir zurück zum gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben wollen, müssen wir neue, intelligentere Wege finden, mit so einer Bedrohung umzugehen als alles stillzulegen.
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Wenn Sie sagen, Sie wollen sich keine Angst mehr machen lassen: Ist das ein Vorwurf an die Krisenpolitik von Kanzlerin Angela Merkel?
Lindner: Nein, das ist gar kein Vorwurf. Die Fraktion der FDP und auch ich waren ja die Ersten, die das kontrollierte Herunterfahren des Landes gefordert haben. Da waren die Schulen in Bayern noch geöffnet. Damals wurde noch über Alternativen debattiert, über die sogenannte Herdenimmunität. Das Land kontrolliert runterzufahren, war zum damaligen Zeitpunkt von den Alternativen die beste Strategie. Nur hat sich inzwischen die Zeit verändert. Je mehr wir erfahren, desto besser sind wir vorbereitet. Deshalb ist jetzt jeder Tag, den dieser Zustand noch andauert, ein Tag zu viel.
Haben die Ministerpräsidenten die Kanzlerin demontiert, als sie Tage vor dem Gipfel vorgeprescht sind und keine gemeinsame Lösung abgewartet haben?
Lindner: Es ist mindestens eine Woche zu lange ins Land gegangen. Beispielsweise haben die 16 Familienminister der Länder längst ein gemeinsames Konzept der Öffnung der Kitas erstellt und die Kultusminister eines zur Öffnung der Schulen. Das hat Frau Merkel dem Vernehmen nach vor einer Woche noch abgelehnt. Aber bei der Entwicklung der Infektionszahlen war es schlechterdings nicht mehr aufrechtzuerhalten, das Land in einem Lockdown zu lassen. Auch Gerichte haben vielfach in Einzelfällen so entschieden, auch das Bundesverfassungsgericht hat sich entsprechend geäußert.
Jetzt kommt der Vorschlag, eine Art Obergrenze für Infektionszahlen einzuführen. Ist das praktikabel?
Lindner: Ja, dafür machen wir uns schon seit Wochen stark. Wenn es in einer Region wieder ein starkes Infektionsgeschehen gibt, dann muss dort angegriffen werden und regional auch die Kapazitäten in den Krankenhäusern dafür reserviert werden. Aber wir müssen nicht am anderen Ende der Republik Kinder von ihren gleichaltrigen Freunden fernhalten und eigentlich notwendige Operationen in Krankenhäusern verschieben. Ich bin froh, wenn die Bundesregierung und die Landesregierungen diesen Weg jetzt gehen.
Es gab viel Kritik an Nordrhein-Westfalens CDU-Ministerpräsident Armin Laschet, der seit Wochen für die Lockerungen gekämpft hat. Im Raum stand dabei immer auch die Machtfrage und das Schaulaufen zwischen Laschet und Markus Söder um eine mögliche Unions-Kanzlerkandidatur. Sehen Sie Herrn Laschet durch die jetzige Entwicklung bestätigt?
Lindner: Ja, ich sehe ihn bestätigt. „Der Kurs, den die nordrhein-westfälische Regierung eingeschlagen hat, wird von vielen übernommen, teilweise überholen die Kritiker die nordrhein-westfälische Regierung plötzlich, obwohl ihre Zahlen regional nicht viel besser sind. Das gehört zum politischen Geschäft. Ich hatte schon den Eindruck, dass es bisweilen eine regelrechte Kampagne gegen den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten gab. Aber so ist nun mal Politik. Es geht um ein Land von über 80 Millionen Menschen mit einer Billion Euro Wirtschaftsleistung im Jahr. Wer da einen Führungsanspruch für ein solches Land erhebt, muss damit umgehen können, dass es dann auch rabiat zugeht.
Wer steckt denn hinter dieser Kampagne gegen Herrn Laschet?
Lindner: Sie kennen die Berliner Bühne ja wie kein Zweiter, und deshalb wissen Sie, dass man das gar nicht eindeutig zuordnen kann. Da entsteht irgendwann eine Dynamik, doch da führt niemand Regie.
Es gibt Forderungen nach einem weiteren Konjunkturpaket ab dem Sommer. Unterstützen Sie da die Regierung oder fürchten Sie, dass da nur noch weiter die Milliardenschleusen aufgemacht werden?
Lindner: Pauschal kann man das nicht sagen. Wir haben eigene Vorschläge, was wir für notwendig halten. Aber wir müssen die Wirtschaft wieder zum Leben erwecken, es geht um Arbeitsplätze und viele Millionen Existenzen im Land. Wir haben die größte und tiefste schwerwiegende Wirtschaftskrise in der Geschichte der Republik. Da braucht es Maßnahmen, rauszukommen. Wir sind für öffentliche Investitionen vor allem in den Bereich der Digitalisierung. Da sind die Defizite in der Krise eklatant offensichtlich geworden, nicht nur bei den Schulen. Wir brauchen aber auch private Investitionen, privaten Konsum, und die Menschen müssen auch wieder private Vorsorge betreiben können. Dieser Teil sollte im Zentrum einer Beschleunigung der wirtschaftlichen Dynamik stehen, sodass wir zu einer wachstumsfreundlichen Steuerreform kommen müssen, die speziell die arbeitende Mitte im Land in den Blick nimmt. Ich halte aber wenig davon, wenn die Regierung Milliarden für eine einzelne Branche in die Hand nimmt. Die Abwrackprämie hat sich schon vor Jahren als nicht besonders wirksam erwiesen.
Wie soll die Steuerreform aussehen? Einfach den Soli abschaffen?
Lindner: Es beginnt bei der Stromsteuer. Die sollten wir auf das europäische Minimum, das rechtlich zulässig ist, reduzieren. Davon profitieren auch Bafög-Empfänger und Rentner. Und wir müssen den Einkommensteuertarif ändern. Der Spitzensteuersatz trifft ja heute schon Facharbeiter; deswegen müssen wir an den ganzen Tarifverlauf ran. Und ja, auch der sogenannte Solidaritätszuschlag muss für alle entfallen, davon profitiert auch der Handwerksbetrieb um die Ecke.
Wie soll das finanziert werden? Als FDP-Vorsitzender dürften Sie für die Forderung der SPD nach höheren Steuern für richtige Gutverdiener wenig Sympathie haben ...
Lindner: Eine Diskussion über neue Belastungen sollten wir in der jetzigen Situation tunlichst unterlassen. Wir wollen ja Betriebe und Arbeitsplätze retten, das gelingt uns nicht, wenn man Vermögensabgaben ankündigt oder die Substanz belastet. Neunzig Prozent des Aufkommens der Einkommensteuer wird von der Hälfte der steuerlich Veranlagten geleistet. Wir haben in Deutschland also bereits Umverteilung vom Besten. Da muss man nicht darüber hinausgehen.
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Viele staunten in den vergangenen Wochen, dass Dax-Konzerne Dividendenzahlungen von über 30 Milliarden Euro ausgeschüttet haben und einige dieser Unternehmen gleichzeitig nach Staatshilfen rufen und Kurzarbeit in Anspruch nehmen.
Lindner: Man muss dabei aber auch daran erinnern, dass auch der Staat von den Dividenden profitiert, denn sie werden versteuert, und zwar ordentlich mit nahezu der Hälfte des Betrags. Also das ist ein gutes Geschäft für den Staat, wenn Unternehmen Gewinne machen und auch ausschütten. Das Kurzarbeitergeld wird nicht vom Staat gewährt, sondern aus der Arbeitslosenversicherung. Auch die Arbeitgeber haben hier Beiträge eingezahlt. Die Alternative zur Kurzarbeit wäre drohende Arbeitslosigkeit.
Was können wir aus der Krise abseits der Gesundheitspolitik lernen?
Lindner: Man muss sehr viel mehr tun im Feld der Digitalisierung, um die bestehenden Defizite abzuarbeiten, etwa in der Schule und der öffentlichen Verwaltung. Man sollte auch Homeoffice kultivieren. Die entgegenstehenden Regelungen bei Arbeitsschutz und Arbeitszeitgesetz brauchen wir nicht, da können wir den Flexibilitätswünschen der Menschen besser entsprechen. Ich bin ohnehin dafür, dass es eine Art Rechtsanspruch auf Prüfung von Homeoffice gibt. Mitnehmen können wir alle vielleicht eine neue Sensibilität für unseren mitmenschlichen Umgang, weil wir alle gelernt haben, wie wichtig es ist, dass wir mit Menschen in Kontakt kommen können, und wie bedeutsam unsere Freiheit ist.
Auf was freuen Sie sich, wenn die Kontaktbeschränkungen fallen?
Lindner: Freunde einladen nach Hause zum Grillen bei uns und einen ausgelassenen, tollen Abend haben und sich einmal nicht nur per Skype treffen oder per Telefon, sondern einfach ganz persönlich anstoßen können.
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