Der 87-jährige Patient kriegt keine Luft mehr. Sein Zimmernachbar drückt den Alarm. Krankenpflegerin Melanie muss mit einer Herzdruckmassage reanimieren. Sie holt den Mann zurück ins Leben. „Er hat wohl gerade noch Glück gehabt“, sagt die 26-Jährige recht abgeklärt. Der Patient kommt auf die Intensivstation. Fälle wie dieser gehören zum Alltag, sagt die Krankenpflegerin. Ihre Arbeit ist ein täglicher Kampf um das Leben anderer – ein Kampf, der nicht immer gewonnen werden kann.
Es ist sechs Uhr morgens auf der Station 8 des Klinikums Augsburg. Melanie und ihre 25-jährige Kollegin Marina beginnen ihre Frühschicht. Früher bezeichnete man ihren Beruf noch offiziell als Krankenschwester. Heute nennt man sie Gesundheits- und Krankenpfleger. Viele Patienten bleiben aber bei der „Schwester“ als Anrede. Auf der Station von Melanie und Marina liegen Patienten mit Herz- und Lungenerkrankungen. 84 Betten gibt es – derzeit sind alle belegt. Melanie und Marina müssen sich zusammen mit einer Hilfskraft um 20 Patienten kümmern. In den nächsten acht Stunden wartet Schwerstarbeit auf sie.
Ein kräftiger, russischer Mann mit Glatze muss aufgerichtet werden. Er wiegt um die 140 Kilo. Mehr als die Pflegerinnen zusammen. Melanie stellt sich an den linken Bettrand, Marina an den rechten. Sie greifen dem Mann unter die Schulterblätter und schaffen es mit viel Mühe und der Hilfe einer Praktikantin, den herzkranken Patienten aufzurichten. Ihn aus dem Bett zu heben, wäre für sie nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. „Ich habe den Eindruck, dass die Patienten immer schwerer werden“, sagt Marina. Sie wünscht sich mehr arbeitserleichterndes Material und Personal.
Für den renommierten Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem ist das Pflegeproblem massiv: „Wir bewegen uns am Rand einer gefährlichen Entwicklung.“ Während in den vergangenen zehn Jahren immer mehr Ärzte eingestellt worden sind, wurden gleichzeitig Pflegestellen konsequent abgebaut. „Sie stellen zugespitzt formuliert einen reinen Kostenfaktor dar“, sagt Wasem.
Deutschland sei im Pflegebereich am europäischen Ende der Personalstatistik angekommen. Während im europäischen Schnitt sechs bis sieben Patienten auf einen Pfleger kommen, sind es hier zehn bis elf. „Das hat natürlich Auswirkungen auf die Qualität der Pflege“, sagt Wasem. Es bleibe weniger Zeit für die Betreuung der Patienten. „Das kann sogar gesundheitliche Folgen haben.“ So könne die Kontrolle über Medikamenteneinnahme oder regelmäßiges Trinken verloren gehen und Patienten sich wund liegen. „Das sind unnötige Risiken“, sagt Wasem. „Es ist daher dringend mehr Personal nötig. Da müssen Regeln geschaffen werden.“ Etwa eine gesetzliche Mindestpersonalausstattung in Kliniken.
"Sonst sind wir ständig auf den Beinen"
Melanie und Marina eilen durch den dunklen Gang der Station von Zimmer zu Zimmer. Die Medikamente der Patienten werden überprüft, Puls und Blutdruck gemessen, Injektionen verabreicht und Infusionen angehängt. Anschließend müssen die Patienten gewaschen und für das Frühstück vorbereitet werden. Alles muss schnell gehen, die Zeit drängt. Bis neun Uhr sollte jeder Patient sein Frühstück haben. Dann dürfen auch die Krankenpfleger etwas frühstücken. Saft, Semmeln und Marmelade stehen auf dem Tisch im Schwesternaufenthaltszimmer. Es wird viel gelacht. Die Stimmung ist heiter.
Doch auch die Vorkommnisse des Tages sind Gesprächsthema, Melanie erzählt von der Reanimation. „Das Reden hilft, um die Erfahrungen besser verarbeiten zu können“, sagt sie. Die gemeinsamen 30 Minuten sind für die Schwestern die einzige Pause des Tages. Umso mehr ärgert Melanie und Marina das Klischee von den Krankenschwestern, die den ganzen Tag rumsitzen, ratschen und Kaffee trinken. „Die Leute sehen uns nur zu diesem Zeitpunkt zusammensitzen. Sonst sind wir ständig auf den Beinen.“
Generell fehlt den Pflegerinnen die gesellschaftliche Anerkennung. „Das geht schon bei den Patienten los“, sagt Marina. Oft müsse man sich beschimpfen lassen. „Wenn die Patienten mit den Ärzten, ihrer Behandlung oder dem Essen unzufrieden sind, kriegen wir das ab.“ Das gehe am Telefon weiter, wenn Verwandte der Patienten anrufen und sich beschweren. „Es fehlt einfach der Respekt“, sagt Marina. Man erwarte eine „Schwester-Stefanie-Behandlung“. Viele Menschen könnten den Wandel in den Krankenhäusern nicht nachvollziehen.
Dieser Wandel trat vor 13 Jahren mit der Einführung des Fallpauschalen-Abrechnungssystems ein. „Früher waren die Patienten viel länger bei uns“, sagt Stationsleiter Saied Morgott. „Heute versuchen wir, sie so schnell wie möglich wieder fit zu bekommen, um sie dann nach Hause entlassen zu können.“ Die Verweildauer zwischen Aufnahme und Entlassung der Patienten sank laut Zahlen der AOK in den vergangenen 20 Jahren von 13,3 Tagen auf 7,5 Tage. Das bedeutet für den Stationsleiter ein sich viel schneller drehendes Patientenkarussell: „Die Patienten auf der Station werden innerhalb einer Woche komplett ausgetauscht“, sagt der 53-Jährige. Heute kommen wieder zehn Personen neu auf seine Station. Es müssen also Betten frei gemacht werden. „Eine der logistischen Herausforderungen, mit der ich täglich konfrontiert bin.“
Krankenpflegerinnen verdienen rund 2350 Euro brutto im Monat
Für seine Kollegen bedeuten die immer kürzer werdenden Verweildauern eine viel höhere Arbeitsdichte bei gleicher Arbeitszeit und Bezahlung. Rund 2350 Euro brutto verdienen Melanie und Marina im Monat. Ihr Chef Morgott hält das für zu wenig und nicht leistungsgerecht: „Man muss die Mitarbeiter schließlich auch finanziell motivieren.“ Ihm fehlt es in der Krankenpflege an einer Lobby, wie sie die Ärzte genießen. „Die Kassen und die Pharmaindustrie machen Milliardengewinne und für die Pflege bleibt nichts übrig“, sagt Morgott. Er habe schon so viele Gesundheitsminister kommen und gehen sehen, die vollmundig eine Reform des Gesundheitssystems versprochen haben. „Wenig ist geschehen.“
Auch dieses Jahr trat eine neue Strukturreform in Kraft: Der Bund will den Krankenhäusern eine Milliarde Euro für neue Pflegekräfte zur Verfügung stellen. „Das ist schon mal ein wichtiger Schritt“, sagt Gesundheitsökonom Wasem. Er betont zugleich, dass nicht alles am Fallpauschalen-System schlecht ist. „Die Verweildauern von Patienten wurden auch schon in den Neunzigerjahren, vor der Einführung des Systems, kürzer.“ Das liege auch an verbesserten medizinischen Möglichkeiten und entspreche auch den Patientenwünschen. „Niemand will lange im Krankenhaus bleiben.“
Der Gesundheitsexperte sieht die Schuldigen für das fehlerhafte Gesundheitswesen eher auf Länderebene: „Die Bundesländer, die für die Investitionen in Krankenhäuser zuständig sind, haben katastrophal versagt.“ Es werde viel zu wenig in die staatlichen Krankenhäuser gesteckt. „Rund ein Drittel weniger als noch vor 25 Jahren.“ 2014 seien sechs Milliarden Euro in deutsche Krankenhäuser investiert worden. „Nur drei Milliarden stammten dabei von den Ländern. Den Rest mussten die Krankenhäuser aus ihren laufenden Erlösen abzwacken.“
Dies führe zu noch mehr ökonomischem Druck im Krankenhausbetrieb. Eine Folge davon: Es wird mehr operiert als nötig. „Die Krankenhausverwaltungen treiben Chefärzte dazu an, im Zweifel zu operieren“, sagt Wasem. Das Klinikum Augsburg weist diesen Vorwurf vehement zurück. Seit langem arbeite man gegen diesen Trend, betont eine Klinikum-Sprecherin.
Am späten Vormittag steht der zweite Pflegedurchgang an. Melanie kümmert sich um die eine Seite des Gangs, Marina um die andere. Es ist wieder dasselbe Spiel: Kontrolle von Temperatur, Blutzucker, Puls und Atemfrequenz. Verbände müssen ausgetauscht und Patienten an ihre Inhalationsgeräte angeschlossen oder gewaschen werden. Alles muss anschließend von Melanie und Marina im Computer dokumentiert werden. Das frisst Zeit. „Der Tag bräuchte mehr Stunden“, seufzt Marina.
Pünktlich um zwölf Uhr muss das Mittagessen ausgeteilt werden. Es gibt Schnitzel mit Kartoffelbrei in runden Plastikschüsseln – für Vegetarier Rührei mit Spinat. Die Frühschicht ist fast geschafft, fehlt nur noch die Übergabe mit der Spätschicht. Der Feierabend ist nah.
Das Telefon klingelt. Ein Mitarbeiter der Intensivstation ist dran. Der 87-Jährige, den Melanie noch am Morgen reanimiert hat, ist gestorben. Sein Herz hat versagt. Eine Schwester schüttelt ungläubig den Kopf. Melanie geht auf das Zimmer des Verstorbenen und packt seine Sachen zusammen. Sie wirkt gefasst. „Natürlich ist so eine Nachricht traurig, aber man lernt, damit umzugehen“, sagt sie mit ernster Miene. „Sonst kann man diesen Job nicht machen.“