Am Morgen des großen Knalls war Sumako Hamada gerade im Garten und wusch die Wäsche ihrer Eltern. Das Wetter war klar, die Hitze, die der Tag bringen würde, schon früh zu erahnen. Um Viertel nach acht blickte sie in die Ferne, das sollte sich die 18-Jährige für immer merken. Denn um diese Uhrzeit passierte etwas, das nicht von dieser Welt schien.
„Plötzlich leuchtete der Himmel unglaublich hell“, erinnert sie sich. „Ich war alt genug, um zu wissen, dass das nicht die Sonne sein konnte.“ In Matsuyama, einer Stadt auf der japanischen Insel Shikoku, blieb es bei dieser unglaublichen Kulisse. Hier tat sie nicht weh.
80 Kilometer weit konnte Sumako Hamada an diesem Morgen blicken. Dorthin, auf der anderen Seite des Ufers nahe ihrer Heimat, wo die Welt augenblicklich in Schutt und Asche verwandelt worden war. Um 8.16 Uhr des 6. August 1945 war aus einem US-amerikanischen Flugzeug namens Enola Gay in einigen Kilometern Höhe eine mit Uran 235 gefüllte Bombe gefallen. 43 Sekunden später, 600 Meter über der Industriestadt Hiroshima, explodierte sie.
Mit einer Geschwindigkeit von 440 Metern pro Sekunde breitete sich ein riesiger Feuerball aus, die Temperatur raste auf fast 4000 Grad Celsius. Drei Minuten später ragte eine pilzförmige Wolke in den bis dahin sonnigen Himmel. Dann fiel schwarzer Regen.
Knapp 70.000 Menschen starben in Sekundenschnelle
Knapp 70.000 Menschen starben in Sekundenschnelle, an den Tagen und Wochen danach folgten an die 100.000 Tote. Es war die erste militärisch eingesetzte Atombombe der Geschichte. Drei Tage später folgte eine zweite über Nagasaki.
Als die Bauerntochter Sumako Hamada eineinhalb Wochen danach davon erfuhr, dass der Krieg sein Ende gefunden hatte, überraschte sie das nicht mehr. Die Radioansprache des Tennos, Kaiser Hirohito, war zwar ein Ereignis für sich. Bis zu jenem 15. August 1945 hatten die allermeisten Japaner noch nie die Stimme ihres für gottähnlich erklärten Staatsoberhaupts gehört.
Doch für Sumako, deren Bruder als Soldat kämpfen musste, hatten die Worte kaum noch Informationswert. „Ich hatte das Gefühl, dass die Niederlage nur noch eine Frage der Zeit war.“ Erleichterung empfand sie dennoch: „Der Krieg hatte uns alle müde gemacht. Mich auch.“
Ende des 2. Weltkriegs: Japan stand kurz vor der totalen Niederlage
In den Tagen, Wochen und Jahren nach der totalen Niederlage rückte das Bild der Müdigkeit in den Hintergrund. Bis zum letzten Mann würde Japan kämpfen, so hatten es die Generäle und Journalisten im Land immer wieder behauptet.
Damit eine Kapitulation mitsamt überlebender Bevölkerung nicht zu sehr wie ein Widerspruch wirkte, fand man ein Narrativ für die Niederlage: Japan, dessen Krieg schon 1931 mit der Invasion der Mandschurei in Nordostchina begonnen hatte, sei nicht an sich selbst gescheitert, sondern an der Technologie.
Die Japaner wollten selbst eine Atombombe bauen
Das hatte durchaus seine Logik. Sumako Hamada und die allermeisten anderen Japaner wussten davon nichts, aber auch Japan hatte während des Krieges versucht, eine Atombombe zu bauen. Nachdem im Dezember 1938 die deutschen Chemiker Lise Meitner, Fritz Strassmann und Otto Hahn die Möglichkeit zur Kernspaltung entdeckt hatten, sprach sich das militärische Potenzial einer nuklearen Kettenreaktion auch in internationalen Kreisen schnell herum.
In Japan setzte sich der Physiker Yoshio Nishina, ein Freund der führenden Wissenschaftler Niels Bohr und Albert Einstein, ab 1939 damit auseinander. Zwei Jahre später erhielt Nishina den offiziellen Auftrag, eine Atombombe zu konstruieren.
Nur verlief das Projekt nicht wie geplant. Es mangelte unter anderem am Rohstoff Uran. Als man in Deutschland und bei weiteren Verbündeten um Unterstützung bat, fand sich zwar einiges zusammen, doch für eine zerstörerische Bombe reichte es noch lange nicht. Von der Bewertung in der ersten Phase des Vorhabens konnte man nicht nennenswert abrücken. Eine Atombombe, hieß es darin, sei zwar prinzipiell möglich, aber „es wäre wahrscheinlich selbst für die USA schwer, die Anwendung von Atomenergie während des Kriegs zu realisieren“.
Am Ende wurde Japans Atomlabor durch einen amerikanischen Luftangriff zerstört und auch nicht wieder aufgebaut. Das „N-Projekt“, benannt nach Yoshio Nishina, war gescheitert.
Der atomare Angriff in Hiroshima setzte die Japaner unter Schock
Entsprechend tief saß der Schock nach dem 6. August 1945. Japans Kaiserliche Armee hatte zeitweise fast den ganzen Pazifik unter Kontrolle gehabt. Im Dienst des Militärs führten japanische Wissenschaftler medizinische Versuche an Menschen durch. Bürokraten beorderten ausländische Frauen in Bordelle an der Front. Seinen Bürgern präsentierte man, so gut es ging, Bilder der Überlegenheit. Doch plötzlich war der Stolz des japanischen Kampfes kleingemacht.
Robert Jacobs, ein wohlgenährter Herr in kurzärmligem Hemd, ist Historiker an der City-Universität Hiroshima. Er forscht zum Trauma, das die Explosion dieser eigentlich unmöglich geglaubten Bombe bedeutete.
„Als die Bomben ausgerechnet über Japan explodierten“, sagt Jacobs in seinem mit Büchern vollgestellten Büro, in dem es so heiß ist, dass er die Klimaanlage voll aufdreht, „muss die Erschütterung ungefähr so groß gewesen sein, wie wenn du in einem Duell kämpfst und dein Gegner sich plötzlich wegbeamt: Du hast mal gehört, dass diese Technik theoretisch möglich ist, aber praktisch völlig unrealistisch sein muss.“
Das Trauma von Hiroshima hatte Folgen
Dieses Trauma sieht Jacobs als entscheidend für die Politik der folgenden Jahre an. „Japan wurde in relativ kurzer Zeit zu einem der führenden Standorte für Atomtechnik.“ Als nach dem Zweiten Weltkrieg die USA auf den Inseln Japans regierten und in die neue Verfassung einen Pazifismusartikel schrieben, blieb dem ostasiatischen Land nichts anderes übrig, als auf die Forschung zu setzen.
Statt ins Militär, das man ohnehin nicht mehr haben durfte, wurde in die Wissenschaft investiert. Und es wurden Legenden gebildet: Schon 1946 gab es Meldungen, nach denen Japan kurz vor der Produktion einer Bombe gestanden habe. Angeblich gab es sogar einen Test. In Wahrheit war das Land von der Fertigstellung einer Bombe weit entfernt gewesen.
Doch die geopolitischen Entwicklungen trugen dazu bei, dass das Land bald seine Kernspaltungen bekam. „Anfang der 1950er Jahre wollte US-Präsident Eisenhower vor allem die liberalen Länder der Welt enger zusammenbringen“, sagt der US-Amerikaner Jacobs. „Dazu hielt er vor den Vereinten Nationen seine ‚Atoms for Peace‘-Rede. Er plädierte für die friedliche Nutzung von Kernspaltungen in Form von Atomkraft.“
Friedensmuseum von Hiroshima: Begeisterung für die Nuklearenergie
Im Frühjahr 1956 öffnete dann, wenige Kilometer vom Unicampus entfernt, auf dem sich Robert Jacobs’ Büro befindet, das Friedensmuseum von Hiroshima. Die erste Ausstellung lautete „Atoms for Peace“. „Sie war eine echte Propagandaveranstaltung für die Nutzung von Atomkraft.“ Man zeigte, wie eine durch Atomtechnik angetriebene Roboterhand japanische Kalligrafie zeichnen konnte. Auch ein Atomreaktor in Miniaturform war ausgestellt. Und man deutete an, dass Nuklearenergie die Strahlenschäden der Atombombenüberlebenden heilen könnten. Das Publikum war begeistert.
Sumako Hamada gehörte nicht zu den Besuchern der Ausstellung. Aber auch sie, die die Zerstörungskraft aus so großer Distanz klar hatte sehen können, empfand kaum noch Skepsis bei der Idee, die nuklearen Kettenreaktionen auch in Japan zu nutzen. „Wir haben uns darüber keine großen Gedanken mehr gemacht“, sagt sie, auf der Bettkante ihres Zimmers in einem Seniorenheim sitzend.
Sie betrachtet einige alte Bilder. „Ich war zwar zu Kriegsende etwas pummelig“, erzählt sie schmunzelnd, „weil wir als Bauern immer Reis hatten. Aber wir waren trotzdem arm. Zu uns kamen keine neuen Produkte. Nicht mal Textilien.“ Die heute 93-jährige Sumako Hamada und die anderen in Matsuyama wollten Fortschritt. Warum nicht mit Atomkraft?
In Hiroshima wurde der erste Atomreaktor gebuat
Kurz nach der Ausstellung in Hiroshima baute Japan in der einstigen Stadt der Bombentragödie seinen ersten Atomreaktor. Und es dauerte nicht lange, bis viele weitere folgten. Über die folgenden Jahrzehnte entwickelte sich das Land, das am Atombombenbau gescheitert war, zu einem der führenden Standorte für Kernphysik. Unternehmen wie Hitachi, Toshiba, Mitsubishi oder Japan Steel Works avancierten zu den weltweit größten Unternehmen der Branche. In Tsuruga, einer Stadt im Westen des Landes, wurde einer der modernsten Forschungsreaktoren überhaupt gebaut. „Bis heute verkörpert das Atom in gewissen Kreisen vor allem Fortschritt“, sagt Robert Jacobs.
Japan als Opfer der nuklearen Kettenreaktion: Die Katastrophe von Fukushima
Als am 11. März 2011 zuerst die Erde gewaltig bebte und dann mehr als 20 Meter hohe Wellen über die Nordostküste hereinbrachen, havarierte in Fukushima ein Atomkraftwerk. Hunderttausende mussten evakuiert werden. Wieder fiel Japan einer nuklearen Kettenreaktion zum Opfer. Und erstmals bildete sich im Land eine sichtbare Anti-Atom-Bewegung. Umfragen zeigen sogar, dass die Mehrheit der Menschen in Japan nun gegen Atomenergie ist.
Doch die Regierung beeindruckt das kaum. Eineinhalb Jahre nach dem Atom-GAU wurde mit Shinzo Abe ein Mann zum Premierminister gewählt, der partout an der Kernkraft festhalten will. Mehrere der zwischenzeitlich gut 50 heruntergefahrenen Reaktoren ließ er unter strengeren Bedingungen wieder in Betrieb nehmen.
Und ein Klüngel aus Politikern, Unternehmen und atomfreundlichen Forschern, das man in Japan oft das „nukleare Dorf“ nennt, hat es mittlerweile geschafft, das Fukushima-Desaster als eine Erzählung von menschlichen Fehlern zu prägen. Mit anderen Worten: Das Unglück von 2011 sporne nur dazu an, weiter auf die Atomkraft zu setzen.
Regierende Partei: Japan sollte Atomwaffen bauen können
Dabei will man in der regierenden Liberaldemokratischen Partei auch mehr als das. Immer wieder haben Politiker der ersten Reihe Gedanken geäußert, die aufhorchen ließen. Ende 2017 sagte der ehemalige Verteidigungsminister Shigeru Ishiba: „Japan sollte die Technologie haben, um eine Atomwaffe zu bauen, wenn es dies will.“ Ishiba gilt als aussichtsreicher Kandidat auf die Nachfolge als Premierminister.
Wenn Sumako Hamada von solchen Äußerungen hört, vergeht ihr der Appetit. Gerade wurde ihr Essen ans Bett gebracht, Reis mit Fisch und Gemüse. Aber bei dem Gedanken wird ihr ganz anders. „Niemand in der Welt sollte Atomwaffen besitzen. Die richten doch nur Schaden an.“
Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Atomwaffen: 75 Jahre nach Hiroshima wächst die nukleare Gefahr
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