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Asylstreit: Merkel muss bis zum EU-Gipfel das Unmögliche möglich machen

Asylstreit

Merkel muss bis zum EU-Gipfel das Unmögliche möglich machen

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    Bei einer Tasse Kaffee: Bundeskanzlerin Angela Merkel im Vier-Augen-Gespräch über die Flüchtlingsproblematik mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gestern auf Schloss Meseberg.
    Bei einer Tasse Kaffee: Bundeskanzlerin Angela Merkel im Vier-Augen-Gespräch über die Flüchtlingsproblematik mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gestern auf Schloss Meseberg. Foto: John Macdougall, dpa

    Die „Mission impossible“ hat begonnen. Angela Merkel muss das Unmögliche möglich machen, und das in weniger als zwei Wochen. Bis zum EU-Gipfel Ende nächster Woche verbleiben ihr gerade noch zehn Tage, um im Asylstreit mit Innenminister Horst Seehofer Ergebnisse zustande zu bringen – entweder bilaterale Lösungen mit den wichtigsten Transitländern auf den Flüchtlingsrouten durch Europa oder eine große europäische Lösung.

    Das Treffen mit Giuseppe Conte hat den Charakter eines Krisengesprächs

    Auf dem Programm der Kanzlerin steht ein Verhandlungsmarathon. Schon am Montagabend geht es los, als Merkel den neuen italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte im Kanzleramt empfängt. Was eigentlich als eher harmloser Antrittsbesuch zum gegenseitigen Kennenlernen geplant ist, hat sofort den Charakter eines Krisengesprächs.

    Denn der parteilose Conte steht einer Regierung vor, in der die rechtspopulistische Lega mit ihrer Forderung nach einem Ende der Aufnahme von Flüchtlingen massiv an Stimmen gewonnen hat, und der neue Innenminister Matteo Salvini von der Lega entschlossen ist, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen. Die Forderung Deutschlands, Flüchtlinge, die in Italien registriert und dann nach Deutschland weitergereist sind, wieder zurückzunehmen, wird von der neuen Regierung kategorisch abgelehnt.

    In Berlin geht die Angst um, dass Italien, sollte Seehofer mit seinen Zurückweisungen ernst machen, Flüchtlinge überhaupt nicht mehr registriert, sondern nach Deutschland durchwinkt. „Das wäre die Neuauflage des Herbstes 2015“, heißt es warnend in Regierungskreisen. Eine schnelle Lösung mit Italien ist jedenfalls nicht in Sicht, zumal auch Vertreter der Oppositionsparteien wie Laura Garavini von der sozialdemokratischen PD in aller Offenheit sagen: „Italien wird sich weigern, Flüchtlinge aus Deutschland zurückzunehmen.“

    Um den Unionsstreit geht es auch in unserer aktuellen Podcast-Folge. Hören Sie doch mal rein!

    Am Dienstag trifft sich Merkel im Gästehaus der Bundesregierung im brandenburgischen Meseberg mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, der sich – wie die Kanzlerin – für eine Reform des europäischen Asylsystems mit gleichen Regeln und Standards in allen Mitgliedsländern der EU ausspricht. Zudem wollen beide die europäische Grenzschutzbehörde Frontex stärken und ausbauen. Am Abend kommt auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker nach Meseberg.

    Macron kann in den Gesprächen aus eigenen Erfahrungen berichten, wie gering die Wirkung einer bilateralen Vereinbarung ist: So gibt es bereits seit 1999 ein Rückführungsabkommen zwischen Frankreich und Italien, auf dessen Grundlage Paris im vergangenen Jahr rund 56.000 Flüchtlinge nach Italien zurückschickte. Doch dort wird so gut wie nichts unternommen, um die Flüchtlinge aufzunehmen oder von neuen Versuchen abzuhalten, illegal ins Nachbarland einzureisen – ein endloses Katz-und-Maus-Spiel.

    Chronologie: Der Asyl-Streit zwischen CSU und CDU

    31. August 2015: "Wir schaffen das", sagt Merkel über die Bewältigung der Flüchtlingszahlen. Kurz darauf schließt sie nicht die Grenzen, als Schutzsuchende massenweise von Ungarn über Österreich nach Deutschland einreisen. Seehofer nennt das einen Fehler.

    9. Oktober 2015: Der CSU-Chef droht mit einer Verfassungsklage, falls der Bund den Flüchtlingszuzug nicht eindämmen sollte. Nach einer Aussprache mit der CDU legt er das Vorhaben kurz darauf ad acta.

    20. November 2015: Auf dem CSU-Parteitag in München kritisiert Seehofer die Kanzlerin auf offener Bühne, während sie neben ihm steht.

    3. Januar 2016: Seehofer fordert erstmals eine konkrete Obergrenze: maximal 200.000 neue Flüchtlinge pro Jahr. Merkel ist strikt dagegen.

    9. Februar 2016: Seehofer nennt die offenen Grenzen für Flüchtlinge im Herbst 2015 "eine Herrschaft des Unrechts".

    4./5. November 2016: Merkel nimmt erstmals nicht an einem CSU-Parteitag teil.

    20. November 2016: Merkel kündigt ihre vierte Kanzlerkandidatur an.

    24. November 2016: Der CSU-Chef macht eine Begrenzung der Zuwanderung zur Bedingung für eine erneute Regierungsbeteiligung.

    6. Februar 2017: Seehofer erklärt offiziell, die CSU unterstütze Merkel bei der Bundestagswahl. Zuvor war lange ein eigener Kanzlerkandidat nicht ausgeschlossen.

    1. April 2017: In einem Interview bezeichnet Seehofer Merkel als "unser größter Trumpf". Nur mit ihr sei die Wahl zu gewinnen.

    3. Juli 2017: Eine Obergrenze für Flüchtlinge kommt im Wahlprogramm der Union nicht vor. Im gesonderten CSU-Programm "Bayernplan" wird sie aber festgehalten. Seehofer macht sie erneut zur Koalitionsbedingung.

    20. August 2017: In einem Interview nennt Seehofer eine Obergrenze nicht mehr ausdrücklich als Bedingung für eine Koalition nach der Wahl.

    24. September 2017: Trotz Verlusten gewinnt die Union die Bundestagswahl, doch die CSU stürzt auf für ihre Verhältnisse katastrophale 38,8 Prozent ab. Fehler der Union im Wahlkampf sieht Merkel nicht.

    8. Oktober 2017: Vor anstehenden Gesprächen mit anderen Parteien über mögliche Koalitionen verständigen sich CDU und CSU auf das Ziel, maximal 200.000 Flüchtlinge pro Jahr aufzunehmen. Ausnahmen sind möglich. Das Wort "Obergrenze" taucht in der Einigung nicht auf.

    15. Dezember 2017: Merkel ist wieder auf dem CSU-Parteitag zu Gast. Die Schwesterparteien demonstrieren Geschlossenheit.

    12. März 2018: Union und SPD unterschreiben ihren Koalitionsvertrag. Seehofer wird als Innenminister in Merkels viertem Kabinett zuständig für Migration und Flüchtlinge. Er kündigt einen "Masterplan für schnellere Asylverfahren und konsequentere Abschiebungen" an.

    15. März 2018: Seehofer sagt: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Die Kanzlerin grenzt sich von ihm ab.

    10. Juni 2018: In der ARD-Sendung "Anne Will" spricht sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gegen die CSU-Forderung nach einer Zurückweisung bestimmter Asylbewerber an der deutschen Grenze aus. Sie wolle, dass Deutschland "nicht einseitig national" handle.

    11. Juni 2018: Seehofer verschiebt überraschend die für den Folgetag geplante Vorstellung seines Masterplans. Hintergrund sind Differenzen mit Merkel über die Zurückweisung von Flüchtlinge an der Grenze, einem wichtigen Punkt des Masterplans.

    12. Juni 2018: Die CSU beharrt auf ihrer Forderung – und setzt auf eine Konfrontation mit der Kanzlerin: "Wir setzen den Punkt durch", sagt CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Unterstützung bekommt Seehofer derweil auch aus den Reihen der CDU. Das wird auch in einer gemeinsamen Sitzung der Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU deutlich.

    13. Juni 2018: Ein abendliches Krisentreffen zwischen Merkel und Seehofer endet ohne Annäherung. Merkel will zwei Wochen Zeit gewinnen und bis zum EU-Gipfel Ende Juni bilaterale Vereinbarungen mit anderen Staaten treffen. Die CSU lehnt das ab: Sie will umgehend auf nationaler Ebene handeln, bevor es mögliche europäische Schritte gibt.

    14. Juni 2018: Der Konflikt eskaliert: Eine laufende Bundestagsdebatte muss unterbrochen werden, die Abgeordneten von CDU und CSU beraten in getrennten Sitzungen mehr als vier Stunden lang über den Asylstreit. Seehofer droht Merkel mit einem "Alleingang". Eine Entlassung des Innenministers, ein Bruch der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU oder gar der Regierungskoalition – zwischenzeitlich erscheinen viele Szenarien möglich.

    15. Juni 2018: Der Bundestag befasst sich in einer aktuellen Stunde mit der Flüchtlingspolitik. Die Opposition kritisiert die Union dabei wegen des Asylstreits scharf. Derweil beharren CDU und CSU auf ihren Positionen.

    16. Juni 2018: CDU-Politiker warnen die CSU eindringlich vor einem Bruch der Union und fordern Kompromissbereitschaft.

    17. Juni 2018: Eine Annäherung zeichnet sich über das Wochenende nicht ab – die Fronten bleiben verhärtet.

    18. Juni 2018: Der Streit wird vertagt. CDU und CSU einigen sich darauf, dass Merkel zwei Wochen Zeit bekommt, um in der Flüchtlingsfrage bilaterale Abmachungen mit anderen EU-Staaten zu erreichen. Erst dann soll über mögliche Zurückweisungen an der Grenze entschieden werden, es gebe keinen "Automatismus", hob Merkel hervor. Umgehend zurückgewiesen werden sollen aber Flüchtlinge mit Einreise- oder Aufenthaltsverbot. Zugleich droht Merkel Seehofer am Montag mit ihrer "Richtlinienkompetenz" als Kanzlerin. (dpa/AFP)

    In der Union geht auch am Dienstag die Debatte zwischen CDU und CSU um die Asyl- und Flüchtlingspolitik mit unverminderter Heftigkeit weiter. Gegenüber unserer Redaktion äußern mehrere

    Die wichtigsten Akteure im europäischen Flüchtlingskonflikt (Stand: Juni 2018)

    Horst Seehofer und die CSU

    Der Bundesinnenminister hat ein Maßnahmenpaket zur Migration erarbeitet, die Zurückweisung bestimmter Flüchtlinge an der Grenze ist ein Teil davon. Der CSU-Vorsitzende begründet dies mit der Sicherheit in Deutschland und der Stimmung in der Bevölkerung. Um seine harte Linie durchzusetzen, scheint er sogar zum Bruch mit der CDU bereit, mit einem Zerfall der Regierungskoalition als Folge. Kritiker werfen Seehofer vor, allein einen Erfolg der CSU bei den bayerischen Landtagswahlen im Herbst im Blick zu haben. Doch in der CDU wird auch vermutet, dass Seehofer eigentlich Merkels Sturz zum Ziel hat.

    Angela Merkel

    Die Kanzlerin ist die Getriebene in dem Konflikt. Unter dem Druck der CSU hat sie zugesagt, bis Monatsende über bilaterale Abkommen zu Zurückweisungen zu verhandeln – obwohl sie solche Maßnahmen eigentlich ablehnt. Nun will sie wenigstens eine europäische Lösung dazu hinbekommen. Doch in Europa schlägt ihr überwiegend Ablehnung entgegen, ihre wichtigsten Verbündeten sind Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Was immer Merkel erreicht, der Konflikt hat sie bereits jetzt als Kanzlerin und CDU-Vorsitzende gefährlich geschwächt.

    Emmanuel Macron

    Der französische Präsident warnt vor einer anti-europäischen Stimmung, die sich "wie die Lepra fast überall in Europa breitmacht". Er spricht sich gegen Nationalismus und geschlossene Grenzen aus und wirbt zusammen mit Kanzlerin Merkel für gemeinsame EU-Asylstandards und mehr Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen. Kritiker auch in seiner eigenen Partei werfen Macron Doppelmoral vor: Denn Frankreich weist an der Grenze zu Italien systematisch Flüchtlinge ab.

    Italiens Regierung mit Innenminister Matteo Salvini

    Unter der neuen Populisten-Regierung geht Rom auf Konfrontationskurs zu Merkel. Treibende Kraft ist Innenminister Matteo Salvini, Chef der fremdenfeindlichen Lega. Er weigert sich, bereits in Italien registrierte Asylbewerber wieder zurückzunehmen: "Wir können keinen Einzigen mehr aufnehmen." Damit droht er, Merkels Plan für bilaterale Abkommen zum Scheitern zu bringen. Stattdessen zeigt sich Rom offen für die Zusammenarbeit mit EU-Staaten wie Österreich, die ebenfalls auf eine harte Gangart in der Migrationspolitik drängen.

    Sebastian Kurz und die ÖVP-FPÖ-Koalition in Wien

    Österreichs Bundeskanzler will mit einer "Achse der Willigen" eine restriktivere Migrationspolitik in Europa durchsetzen. Er wirbt dabei für eine regionale Zusammenarbeit zwischen Rom, Wien und Berlin – wobei er insbesondere Seehofer im Blick hat. Sollte Deutschland die Grenzkontrollen verschärfen, kündigte Kurz seinerseits Kontrollen an Österreichs Südgrenzen an. Zugleich positioniert er sich als Vermittler zwischen den westlichen EU-Mitgliedern und den osteuropäischen Visegrad-Staaten, die eine Flüchtlingsaufnahme strikt ablehnen. Ab 1. Juli übernimmt Österreich die EU-Ratspräsidentschaft und will dem Schutz der EU-Außengrenzen Priorität einräumen.

    Jean Claude Juncker

    Der EU-Kommissionspräsident und seine Behörde versuchen seit der Flüchtlingskrise vergeblich, eine Umverteilung von Flüchtlingen aus den stark belasteten Ankunftsländern im Süden Europas auf alle EU-Staaten durchzusetzen – er scheiterte am Widerstand osteuropäischer Länder. In ihren Vorschlägen für den künftigen EU-Finanzrahmen schlug die Kommission jüngst eine massive Aufstockung der Grenz- und Küstenschutzbehörde Frontex von 1000 auf 10.000 Beamte vor sowie eine stärkere finanzielle Unterstützung von Ländern bei der Flüchtlingsaufnahme. (AFP)

    Unionsfraktionsvize Georg Nüsslein (CSU), sagt unserer Redaktion, es sei „notwendig und richtig“, dass die Kanzlerin für eine europäische Lösung kämpft. Dabei gehe es um die Richtlinien, „nicht aber bei dem, was Horst Seehofer an den Grenzen umsetzen muss, falls die Lösung nicht zustande kommt“. Die geplanten Zurückweisungen würden auf geltendem Recht basieren. „Eine Richtlinienkompetenz, die über geltendem Recht steht, gibt es nicht“, so der Abgeordnete aus dem Kreis Günzburg. Er zeigt sich optimistisch, dass es nicht zum Worst-Case-Szenario kommt. „Die Kanzlerin ist zudem zu klug, um einen Koalitionspartner über die Richtlinienkompetenz aus der Regierung zu weisen.“

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