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Asyl: Der neue Weg nach Europa führt über Spanien

Asyl

Der neue Weg nach Europa führt über Spanien

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    Ein Bild, das in diesem Sommer in Motril und anderen südspanischen Hafenstädten täglich zu sehen ist: Schwarzafrikaner, die von der spanischen Küstenwache im Mittelmeer abgefangen wurden.
    Ein Bild, das in diesem Sommer in Motril und anderen südspanischen Hafenstädten täglich zu sehen ist: Schwarzafrikaner, die von der spanischen Küstenwache im Mittelmeer abgefangen wurden. Foto: Carlos Gil, dpa

    Den ganzen Tag war der orangefarbene Kreuzer „Rio Aragón“ vor der südspanischen Küste im Einsatz. Mehr als 100 Menschen fischten die Retter binnen weniger Stunden aus dem Wasser, darunter auch zwei Babys. Die schiffbrüchigen Flüchtlinge waren in vier Booten unterwegs. Kleine, wackelige Kähne aus Holz oder Gummi, die in Spanien „pateras“ genannt werden.

    „So geht das fast jeden Tag“, sagt Juan Alcausa. Der Koordinator des Roten Kreuzes sitzt im Hafen des südspanischen Küstenorts Motril und wartet auf die Geretteten. Jetzt, wo das Meer ruhiger ist, schickten die Schlepper auf der anderen Seite des Mittelmeers besonders viele Flüchtlingsboote auf die Reise, sagt er. Und dass das wohl erst der Anfang ist. „Wir stehen vor einem heißen Sommer“, befürchtet Alcausa.

    Spanien ist zum neuen Italien geworden

    Die 60.000-Einwohner-Stadt Motril in der andalusischen Provinz Granada ist einer der neuen Brennpunkte des spanischen Flüchtlingsdramas. Genauso wie die Hafenstädte Algeciras, Almería, Cádiz und Tarifa, wo immer mehr Schiffe aus Nordafrika landen. Spanien, so scheint es, ist zum neuen Italien geworden – zu dem Land, das die Flüchtlinge übers Mittelmeer erreichen wollen. Während an italienischen Küsten zuletzt deutlich weniger Migranten strandeten, hat sich die Zahl in Andalusien verdreifacht. Und Spanien, das lange Zeit kaum Migranten anzog, hat ein Problem.

    Rot-Kreuz-Mann Alcausa glaubt nicht, dass sich das schnell ändern wird. Der Weg Richtung Italien sei weitgehend gekappt. Das liegt einerseits daran, dass die EU die Zusammenarbeit mit Libyens Küstenwacht verstärkt hat, andererseits hat die neue Regierung in Rom die Häfen für Flüchtlingsboote geschlossen. Nun hat sich die Fluchtroute nach Spanien verlagert. Nur mit Abschottung und mehr Grenzschutz lasse sich diese Krise nicht lösen, meint Alcausa: „Man kann ja nicht überall Mauern errichten.“

    Viele jener Migranten, die an diesem Nachmittag in Motril vom Rettungsschiff „Rio Aragón“ auf die Hafenmole klettern, haben noch Schwimmwesten an. Fast alle sind Schwarzafrikaner aus den Armutsländern unterhalb der Sahara. Nach den ersten Schritten auf dem europäischen Kontinent gehen einige auf die Knie, küssen den Boden. Manche recken triumphierend die Arme in die Höhe.

    50.000 Schwarzafrikaner warten derzeit in Marokko auf die Überfahrt

    „Trotz des Dramas, das sie auf ihrer Reise nach Europa durchmachen, sind sie glücklich, wenn sie hier ankommen“, sagt Alcausa. Die Hoffnung auf ein besseres Leben sei offenbar größer als all das Leid, das sie erlebt haben. Viele von ihnen durchqueren auf dem Weg nach Nordafrika erst einmal die Sahara, wo Schätzungen zufolge mehr Migranten sterben als im Mittelmeer. Abouo, 26, brauchte ein Jahr, um sich von seinem westafrikanischen Heimatland Elfenbeinküste über Mali und Mauretanien durch die Wüste bis nach Marokko durchzuschlagen – unterwegs hat er immer wieder gearbeitet, um Geld für die Weiterreise zu beschaffen. „Viele junge Leute in meinem Land wollen nur weg“, sagt er. Und alle hätten nur ein Ziel: Europa.

    Die spanische Polizei geht davon aus, dass derzeit 50.000 Schwarzafrikaner in Marokko darauf warten, in die EU zu gelangen. Manche versuchen es zunächst über die spanischen Exklaven, die in Nordafrika liegen – nach Melilla oder Ceuta, wo die Lage am Donnerstag eskalierte und 600 Menschen den Grenzzaun stürmten. Andere Flüchtlinge versuchen gleich, von Marokko aus nach Spanien überzusetzen.

    So hat es auch Abouo gemacht. An der marokkanischen Küste bezahlte er einem Schlepper umgerechnet 800 Euro für die 180 Kilometer lange Überfahrt. Ja, er habe Angst im Boot gehabt, berichtet er auf Französisch. Angst, nicht lebend anzukommen. Warum er es trotzdem wagte? „In Afrika gibt es keine Arbeit und viele Probleme.“

    In 72 Stunden entscheidet die Polizei über ihr Schicksal

    In Motril erwartet ihn zunächst die Polizei. Der junge Afrikaner, der in der Heimat Lastwagenfahrer war, wird wie alle anderen, die an diesem Tag in der Stadt stranden, in ein geschlossenes Auffanglager im Hafen gebracht. In der Halle, die früher einmal der Fischindustrie diente, wimmelt es von Menschen. Die Zustände sind erbärmlich, sagt die andalusische Politikerin Maribel Mora von der linksalternativen Partei Podemos: „Dies ist ein Haftzentrum, wo sie in Zellen gesteckt werden. Obwohl dies Menschen sind, die auf dem Meer gerettet wurden und viele von ihnen das Trauma eines Schiffbruchs hinter sich haben.“ Auch Frauen und Babys würden dort eingepfercht. Menschenunwürdig sei dies. „Es gibt kaum Platz für die Matratzen auf dem Boden.“

    In der städtischen Sporthalle im Norden Motrils, wo ein weiteres provisorisches Lager eingerichtet wurde, soll es etwas besser sein. Genau aber weiß man das nicht. Journalisten haben keinen Zugang zu den Zentren, in denen die Flüchtlinge die ersten 72 Stunden nach ihrer Ankunft verbringen. In dieser Zeit entscheidet die Ausländerpolizei über ihr Schicksal. Über Abschiebung oder Freiheit.

    Die meisten können mit einer Freilassung rechnen. Weil sie im Lager einen Asylantrag stellen, der sie vor der Abschiebung schützt. Weil Identität oder Herkunftsland nicht zweifelsfrei geklärt werden können, was eine Rückführung verhindert. Oder, weil sie schnell Platz für die nächsten Schiffbrüchigen machen müssen.

    „Kollaps an der andalusischen Küste“, hat der Radiosender SER zuletzt gemeldet. Derweil haben 38 andalusische Hilfsorganisationen eine Protesterklärung verfasst: „Spanien reagiert mit besorgniserregender Improvisation auf die Migrationskrise“, kritisieren sie. Zu den Unterzeichnern gehört die Bürgerplattform „Motril Acoge“ („Motril nimmt auf“), die Migranten mit Kleidung und Lebensmitteln hilft. „Es mangelt an staatlicher Vorsorge“, beklagt deren Sprecher Miguel Salinas. Und an politischem Willen. „Die Mittel, mit denen hier von den Behörden die Flüchtlinge empfangen werden, sind dieselben wie vor 20 Jahren.“ Er warnt: „Das stetige Gefühl, dass die Lager überfüllt sind, facht eine fremdenfeindliche Stimmung in der Bevölkerung an.“

    „Erzählt allen die traurige Wahrheit“, sagt der spanische Polizist in Motril

    Davon hat der Polizist, der draußen vor dem Flüchtlingslager Wache schiebt, noch nichts gespürt. Eigentlich darf er nichts sagen. Dann bricht er doch sein Schweigen, allerdings ohne seinen Namen zu nennen: „Erzählt allen die traurige Wahrheit – das ist ein Drama.“ Die Menschen, die er bewachen muss, tun ihm leid: „Das sind sehr anständige Leute. Gehorsam und fleißig. Die machen uns keine Probleme.“

    Die meisten Schwarzafrikaner wollten ohnehin nicht in Spanien bleiben, sagt er. Weil es hier vom Staat wenig soziale Leistungen für die Flüchtlinge gebe. „Die wollen alle nach Frankreich. Und nach Deutschland.“ Vor allem „Alemania“ habe eine große Anziehungskraft.

    In Spanien kommen drei Mal so viele Flüchtlinge an wie im Vorjahr

    Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen in Südspanien seit Jahresbeginn mehr als 22.700 Flüchtlinge per Boot an, drei Mal so viel wie im Vorjahreszeitraum.

    Auch in Spaniens nordafrikanischen Exklaven Ceuta und Melilla wurden seit Januar mehr als 3100 Ankünfte registriert. Am Donnerstag stürmten in Ceuta 600 Afrikaner den Grenzzaun und gelangten auf spanischen Boden.

    In Italien, das 2017 noch das Hauptziel der Migration übers Mittelmeer war, kommen derweil immer weniger Boote an: 2018 landeten hier 18.000 Migranten, im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es noch 95.000 Personen.

    Auch in Griechenland landen mehr Flüchtlinge, die Zahlen steigen aber viel moderater als in Spanien: An den Küsten kamen 2018 bisher knapp 16.000 Migranten an.

    Zuletzt aber hat sich die Zahl der Flüchtlinge, die übers Mittelmeer nach Europa kamen, halbiert: Seit Jahresbeginn wurden laut IOM an Südeuropas Küsten 55.000 Migranten registriert, im Vorjahr waren es noch 112.000 Menschen.

    Warum? „Die gucken in ihren Heimatländern auch Fernsehen“, sagt Rot-Kreuz-Koordinator Alcausa. „Sie glauben, dass es ihnen in Deutschland oder Frankreich besser geht als in Spanien.“ Motril sei nur eine Zwischenstation, Spanien nur ein weiteres Transitland auf dem Weg zum Ziel. Das spanische Rote Kreuz, das im staatlichen Auftrag handelt, hilft den Migranten, ihre Reise fortzusetzen: Die Flüchtlinge werden weitergeschickt mit einem Butterbrot, einer Wasserflasche und einem Busticket – immer Richtung Norden. So ist es in Motril, so ist es in Tarifa, Algeciras und den anderen Küstenorten.

    „Nur die Ärmsten der Armen bleiben in Spanien hängen“, bestätigt Pater José von der katholischen Kirchengemeinde „Señora de la Encarnación“, die nicht weit vom Hafen entfernt liegt. Etwa jene, die keine Kontakte in andere Länder haben. Oder denen die Kraft fehlt. Auch für Migranten, die nur tot aus dem Meer geborgen werden können, ist Spanien die letzte Station – sie werden auf dem städtischen Friedhof begraben.

    „Wer in Spanien bleibt, endet meist in der Landwirtschaft“, sagt José García von der andalusischen Gewerkschaft Soc-Sat. Gleich hinter Motril beginnt Europas größter Gemüsegarten. Ein Meer aus Gewächshäusern, das sich bis nach Almería, 100 Kilometer weiter östlich, erstreckt. Hier wachsen das ganze Jahr über Salat, Tomaten, Zucchini oder Paprika. Mittendrin wuchern Slums, in denen tausende Tagelöhner, meist gestrandete Migranten aus Afrika, in Plastikhütten hausen.

    Tidiane will sich auch bald Arbeit auf den Plantagen suchen. Jetzt, wenige Tage nach seiner Ankunft im Hafen von Motril, verdingt sich der Senegalese erst einmal als fliegender Händler am Strand. Er verkauft Sonnenbrillen. Der 24-Jährige will in Motril bleiben, wo auch sein Bruder lebt. Auch er kam per Boot.

    Auch wenn das Überleben nicht einfach ist und die Angst vor Abschiebung allgegenwärtig: Tidiane hat die riskante Reise bisher nicht bereut. Er glaubt fest an das, was ihm sein Vater zu Hause immer gesagt hat: „In Europa ist alles besser als in Afrika.“

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