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Anschlag in Berlin: Protest gegen Doppelrolle von Beamtin im Amri-Untersuchungsausschuss

Anschlag in Berlin

Protest gegen Doppelrolle von Beamtin im Amri-Untersuchungsausschuss

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    Im Dezember 2016 richtete der Attentäter Anis Amri auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz ein Blutbad an.
    Im Dezember 2016 richtete der Attentäter Anis Amri auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz ein Blutbad an. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Man stelle sich das mal in einem Gerichtsprozess vor: Jemand nimmt als Beobachter an allen Vernehmungen teil, kennt alle Akten und ist auch bei den Besprechungen der Staatsanwaltschaft dabei - und wechselt dann bestens informiert die Rolle und wird als Zeuge befragt. So ähnlich könnte es demnächst im Untersuchungsausschuss des Bundestags zum Terroranschlag auf einem Berliner Weihnachtsmarkt ablaufen. Denn aus einem Schreiben des Bundesinnenministeriums an die Ausschussmitglieder geht hervor, dass eine Beamtin, die den Ausschuss als Vertreterin des Ministeriums begleitet, mindestens bis August 2016 - vier Monate vor der Tat - beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gearbeitet hat. Und zwar nicht irgendwo, sondern in der Islamismus-Abteilung. Dort war sie auch für die Auswertung von Informationen zu zwei Salafisten zuständig, mit denen der tunesische Attentäter Anis Amri zeitweise in engem Kontakt stand. 

    Der Fall Anis Amri

    Anis Amri, der Attentäter des Berliner Weihnachtsmarkts, war von Behörden als Gefährder eingestuft worden.

    Juli 2015 Amri kommt nach Deutschland. Er hält sich in NRW und Berlin auf. Trotz Ablehnung seines Asylantrags wird er nicht nach Tunesien abgeschoben, da nötige Papiere fehlen.

    19. November 2015 Ein nicht näher identifizierter „Anis“ wird erstmals aktenkundig. Er habe „hier“ etwas machen wollen, geht aus einer Chronologie des Bundesinnenministeriums hervor.

    11. Januar 2016 „Anis“ wird per Foto-Abgleich „mit einiger Sicherheit“ einer Person mit dem Namen Anis Amri zugeordnet. Ab diesem Zeitpunkt soll der Tunesier wöchentlich Thema bei deutschen Behörden gewesen sein.

    17. Februar 2016 Die Behörden stufen ihn als Gefährder ein. Er wird observiert und ist unter 14 Identitäten bekannt.

    Juni 2016 Die Videoüberwachung wird eingestellt. Zuvor wird Amri mehrmals beim Betreten der islamistischen Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit gefilmt.

    September 2016 Das Interesse der Behörden an Amri erlischt.

    September/Oktober 2016 Nach Informationen aus Sicherheitskreisen warnt der marokkanische Geheimdienst vor Anschlagsplänen Amris.

    17. Dezember 2016 Laut „Bild am Sonntag“ treffen die Pass-Ersatzdokumente für Amri im tunesischen Generalkonsulat in Bonn ein, vier Tage später in der Ausländerbehörde in Köln.

    19. Dezember 2016 Nach einem Besuch der Berliner Fussilet-Moschee stiehlt Amri einen Lkw und erschießt den Fahrer. Danach steuert er den Laster in den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche. 12 Menschen sterben, mehr als 50 werden verletzt.

    21.-23. Dezember 2016 Auf seiner Flucht wird der 24-Jährige an Bahnhöfen in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Italien gefilmt.

    23. Dezember 2016 Amri wird vor dem Bahnhof von Sesto San Giovanni nahe Mailand bei einer Routine-Kontrolle von Polizisten erschossen.

    25. Januar 2017 Das Parlamentarische Gremium zur Kontrolle der Geheimdienste im Bundestag setzt eine interne Ermittlergruppe ein. dpa

    Einer von ihnen, der Deutsch-Serbe Boban S. steht inzwischen in Celle vor Gericht. In seinem Prozess geht es um die Gruppe des Predigers Abu Walaa, die laut Anklage in Deutschland Kämpfer für die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien rekrutiert haben soll. Der zweite Kontaktmann, mit dem sich die Beamtin in ihrer Zeit beim Verfassungsschutz befasste, ist Kamel A.. Er hatte Amri in Berlin eine Bleibe besorgt, verkehrte in Salafisten-Moscheen.

    Die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic hält es für einen Skandal, dass eine potenzielle Zeugin des Ausschusses Zugang zu allen Sitzungen und Akten hatte. "Aus meiner Sicht hätte diese Beamtin niemals als Vertreterin des Bundesinnenministeriums in den Untersuchungsausschuss geschickt werden dürfen", sagt die Grünen-Obfrau. Die Abgeordneten hatten erst am Dienstag aus einem Schreiben des Innenministeriums von der früheren Tätigkeit der Beamtin beim Verfassungsschutz erfahren. Die "Welt" hatte zuerst über das Schreiben berichtet. 

    "Wenn es im BfV damals Versäumnisse gegeben haben sollte, für die sie die Verantwortung trägt, dann hat sie sich jetzt optimal auf ihre eigene Vernehmung vorbereiten können", sagte Mihalic. Dass eine Mitarbeiterin, bei der ein solcher Interessenkonflikt bestehe, das Ministerium in diesem Untersuchungsausschuss vertrete, zeige, dass Innenminister Horst Seehofer (CSU) den Überblick über sein Haus verloren habe.

    Die Linken-Obfrau Martina Renner wies Seehofer in einem Brief darauf hin, dass sie selbst die Vertreter der Bundesregierung im Ausschuss bereits in einer Sitzung am 1. März gebeten habe, zu erklären, ob sie selbst womöglich als Zeugen in Betracht kämen. 

    Fall Anis Amri: Beamtin lediglich in "begleitender und koordinierender Funktion"

    Das Innenministerium hatte im April auf eine Frage des Ausschussvorsitzenden nach einer "möglichen Zeugeneigenschaft der Beauftragen der Bundesregierung" schriftlich mitgeteilt, die Beamtin sei mit dem Fall Anis Amri erstmals nach dem Anschlag befasst gewesen. Sie habe damals lediglich eine "begleitende und koordinierende Funktion" bei der Aufbereitung der Unterlagen gehabt.

    Der abgelehnte Asylbewerber Amri war mit verschiedenen Identitäten in Deutschland unterwegs gewesen und hatte Kontakt zu radikalen Salafisten gehalten. Er erschoss einen Lastwagenfahrer und raste mit dessen Fahrzeug am 19. Dezember 2016 auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche und tötete so elf weitere Menschen. 

    Im September hatte der Untersuchungsausschuss zwei Mitarbeiter der Islamismus-Abteilung des Bundes-Verfassungsschutzes als Zeugen vernommen - ehemalige Kollegen der Beamtin. Eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums hatte am Mittwoch auf Anfrage erklärt, die Auswahlentscheidung der Bundesregierung bei der Benennung von Beauftragten sei "nicht dahingehend beschränkt, dass nur mit der Sachmaterie nicht befasste Mitarbeiter" benannt werden dürften.

    Der Ausschussvorsitzende Armin Schuster sagte: "Einen Interessenkonflikt halte ich für möglich." Der Ausschuss werde prüfen, in welchem Ausmaß die Beamtin damals mit den Maßnahmen des Verfassungsschutzes in Amris Umfeld in Berührung gekommen sei. Das Bundesinnenministerium müsse dem Ausschuss zudem erklären, "warum uns die mögliche Zeugeneigenschaft bisher nicht aufgezeigt wurde".

    Aus dem Ministerium hieß es: "Die Aufklärungsrechte des Untersuchungsausschusses sind von der Auswahl der Beauftragten unabhängig und bleiben vollumfänglich gewahrt." Sollte der Ausschuss Zweifel hegen, könnten Streitfälle vor Gericht gebracht und die Vorlage bislang gesperrter Dokumente oder Aussagen zu bestimmten Sachverhalten angeordnet werden.

    Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz spricht von einem "ungeheuerlichen Vorgang"

    Während der Vernehmung von Verfassungsschutz-Mitarbeitern war die Beamtin mehrfach energisch eingeschritten, um Aussagen zu verhindern, die nach ihrer Einschätzung nicht in einer öffentlichen Sitzung gemacht werden sollten. Der Grünen-Innenpolitiker Konstantin von Notz attestierte ihr einen teilweise "aggressiven Ton" und sprach von einem "ungeheuerlichen Vorgang". 

    Aus Sicht der Grünen zeigt "die Personalie Frau H." auch, dass die von den Koalitionsspitzen ursprünglich geplante Beförderung von Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen zum Innenstaatssekretär mit Zuständigkeit für Öffentliche Sicherheit weitere Probleme gebracht hätte. Denn im Ministerium wäre Maaßen dann erneut Vorgesetzter seiner ehemaligen Mitarbeiterin geworden. Maaßen hatte die Rolle seiner Behörde in Fall Amri relativiert. 2017 sagte er: "Wir hatten es hier mit einem reinen Polizeifall zu tun, der in den zuständigen Bundesländern bearbeitet wurde." 

    Der FDP-Vertreter im Ausschuss, Benjamin Strasser, sagt: "Entweder wurde das Parlament erneut zum Fall Amri belogen oder der Verfassungsschutz hat gegenüber dem Innenministerium die Rolle seiner ehemaligen Mitarbeiterin im Fall Amri bewusst verschleiert. Beides wäre ein katastrophales Signal." (AZ/dpa)

    Europa im Visier der Attentäter: Die Anschläge der vergangenen Jahre

    Paris, 12. Mai 2018:

    Im Viertel um die Pariser Oper, einem besonders belebten im Zentrum der Stadt, greift ein Mann vorbeigehende Menschen mit einem Messer an. Dabei tötet er einen 29-Jährigen und verletzt vier weitere Personen, zwei davon schwer. Bei dem Täter handelt es sich mutmaßlich um einen 20 Jahre alten Islamisten, der in Tschetschenien geboren wurde.

    Carcassonne und Trèbes, 23. März 2018

    Bei einer Geiselnahme tötet ein 26-jähriger mutmaßlicher Islamist in einem südfranzösischen Supermarkt zwei Menschen. Danach nimmt er einen Polizist als Geisel. Später wird der Angreifer erschossen.

    Marseille, 1. Oktober 2017

    Ein Mann geht mit einem Messer auf Passanten am Bahnhof Saint-Charles los. Er ersticht zwei junge Frauen. Wenig später wird der islamistische Attentäter von französischen Soldaten erschossen.

    Barcelona. 17. August 2017

    Ein Attentäter fährt mit einem Lieferwagen durch eine Menschenmenge auf dem Boulevard La Rambla im Zentrum von Barcelona. Dabei werden 14 Menschen getötet und mindestens 118 Menschen verletzt. Auf der Flucht ersticht der Attentäter eine weitere Person.

    Hamburg, 28. Juli 2017

    Bei einer Messerattacke in einem Supermarkt im Hamburger Stadtteil Bambek-Nord stirbt ein Mensch. Sieben weitere werden zum Teil schwer verletzt.

    London, 19. Juni 2017

    Bei einem Anschlag tötet ein Mann mit einem Lieferwagen eine Person und verletzt zehn weitere Menschen nahe der Finsbury Park Moschee im Norden der britischen Hauptstadt.

    Paris, 6.Juni 2017:

    Ein Mann attackiert einen Polizisten mit einem Hammer. Auch wenn der Polizist überlebt stuft die Polizei die Attacke später als Terroranschlag ein.

    London, 3. Juni 2017:

    Ein Lieferwagen rast auf der London Bridge auf den Bürgersteig und fährt mehrere Passanten an. Anschließend springen die Attentäter heraus und greifen in einem nahegelegenen Ausgehviertel mit Messern wahllos Menschen an. Sieben Menschen werden getötet. 48 Verletzte müssen in Krankenhäuser eingeliefert werden. Die Polizei erschießt die drei Angreifer. Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) reklamiert die Tat für sich.

    Manchester, 22. Mai 2017:

    Ein Selbstmordattentäter sprengt sich am Ende eines Konzertes von US-Popstar Ariana Grande in Manchester in die Luft und reißt 22 Menschen mit in den Tod. 116 Menschen werden verletzt. Unter den Opfern sind viele Jugendliche und Kinder. Die Tat des 22-jährigen libyschstämmigen Briten Salman Abedi reklamiert die IS-Miliz für sich.

    Stockholm, 7. April 2017:

    Ein Mann rast in einem gestohlenen Lastwagen durch eine Einkaufsstraße in Stockholms Innenstadt und fährt wahllos Passanten um. Fünf Menschen sterben. Die Polizei nimmt den 39-jährigen Usbeken Rachmat Akilow fest, er gesteht die Tat. Akilow gilt als Anhänger der Dschihadistenmiliz IS.

    St. Petersburg, 3. April 2017:

    Ein Selbstmordattentäter zündet in einer fahrenden U-Bahn in der Innenstadt von St. Petersburg eine Bombe. 15 Menschen sterben. Als mutmaßlichen Täter identifizierten die Ermittler den 22-jährigen Akbarschon Dschalilow aus Kirgistan. Die Behörden gehen möglichen Verbindungen zur Dschihadistenmiliz IS nach. 

    London, 22. März 2017:

    Der mutmaßlich islamistische Attentäter Khalid Masood rast auf der Westminster-Brücke im Herzen Londons mit seinem Auto in eine Gruppe von Passanten, vier Menschen sterben. Vor dem Parlament ersticht Masood dann einen Polizisten, ehe er selbst erschossen wird. Die IS-Miliz reklamierte die Tat für sich.

    Istanbul, 1. Januar 2017:

    Kurz nach Mitternacht betritt ein Mann den Istanbuler Nachtclub "Reina" und schießt um sich. 39 Menschen, die dort den Jahreswechsel feiern wollten, werden getötet. Zwei Wochen später nimmt die Polizei den 34-jährigen Usbeken Abdulkadir Mascharipow als Hauptverdächtigen fest. Auch zu diesem Anschlag bekennt sich die Dschihadistenmiliz IS.

    Berlin, 19. Dezember 2016:

    Der Tunesier Anis Amri erschießt einen Lkw-Fahrer aus Polen, setzt sich an das Steuer des Lasters und rast in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Zwölf Menschen sterben. Amri wird später von der Polizei in Mailand erschossen. Der Fall löst eine Debatte über Behördenversagen aus: Amri konnte zum Attentäter werden, obwohl er als islamistischer Gefährder auf dem Radar deutscher Sicherheitsbehörden war.

    Nizza, 14. Juli 2016:

    Der Tunesier Mohamed Lahouaiej Bouhlel rast über die Uferpromenade von Nizza, wo tausende Menschen den französischen Nationalfeiertag begehen. Erst nach einigen hundert Metern kommt der Lkw zum Stehen, 86 Menschen werden getötet. Die Polizei erschießt Bouhlel. Der IS bekennt sich zu der Tat.

    Istanbul, 28. Juni 2016:

    Drei Selbstmordattentäter sprengen sich auf dem Istanbuler Atatürk-Flughafen in die Luft, 47 Menschen werden getötet. Offiziell bekennt sich niemand zu der Tat, die Regierung macht die IS-Miliz verantwortlich. Ihren Angaben zufolge stammen die Attentäter aus Russland, Usbekistan und Kirgistan.

    Brüssel, 22. März 2016:

    Selbstmordattentäter zünden Sprengsätze am Brüsseler Flughafen und in der U-Bahn-Station Maelbeek. 32 Menschen sterben, mehr als 230 werden verletzt. Hinter den Taten steht eine Zelle des IS, die auch an den Pariser Anschlägen vier Monate zuvor beteiligt war.

    Paris, 13. November 2015:

    Frankreichs Hauptstadt wird zum Ziel einer blutigen Anschlagsserie. Insgesamt 130 Menschen werden bei Bomben- und Schusswaffenattentaten getötet. Die Attentäter nehmen die Konzerthalle Bataclan, Bars, Restaurants und ein Stadion ins Visier. Zu diesen Taten bekennt sich ebenfalls der IS. (afp. AZ)

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