Ist der Fall von Würzburg etwas anderes für Sie?
Peter Neumann: "Wenn so etwas in der Heimatstadt passiert, ist so ein Anschlag schon etwas anderes. Gerade wenn es eine Stadt ist, die nicht jeden Tag in den Nachrichten ist. Man kennt die Orte, ich bin früher zu Spielen des SV Heidingsfeld gegangen, man kennt Leute aus dem Stadtteil und fragt sich natürlich, ob es denen gut geht. Alles ist viel konkreter."
Warum flüchtet jemand aus dem Land der Taliban und wird im Westen zum islamistischen Terroristen?
Neumann: "Es gibt noch nicht allzu viele Details. Ins Beuteschema des IS passen vor allem Leute mit persönlichen oder psychischen Problemen, Leute, die möglicherweise schon gewaltsame Tendenzen zeigten und sich dann an die Marke IS dranhängen. Die Vermutung liegt nahe, dass sich der Täter von Würzburg innerhalb der letzten Wochen in Deutschland radikalisiert hat. Das ist ungewöhnlich. Typischerweise dauern Radikalisierungsprozesse mehrere Monate oder gar Jahre. Das ist eine neue Qualität."
Wenn psychisch kranke Menschen andere Menschen angreifen oder töten, sprach man in der Vergangenheit von einem Amoklauf. Wo verläuft die Grenze zwischen Terror und Amok?
Neumann: "Vielleicht gibt es da keine so genaue Grenze. Und vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, dass der IS mit solchen Leuten offensichtlich eine neue Zielgruppe identifiziert hat, die er für seine Zwecke einspannen kann."
"In 60 Prozent der Fälle sprechen die einsamen Wölfe über ihre Radikalisierung"
Sie mahnen schon seit langem eine bessere Präventionsarbeit an.
Neumann: "Wenn es mehr und bessere Präventionsprogramme gäbe, könnte man solche Radikalisierungsprozesse schneller erkennen. Man wird solche Prozesse dann nicht immer stoppen können. Aber es geht bei Prävention nicht nur darum, Leute davon abzuhalten, Extremisten zu werden. Präventionsarbeit ist auch die Grundlage dafür, rechtzeitig polizeiliche Maßnahmen einleiten zu können. Und es gab ja auch in diesem Fall nun einige Anzeichen: die Flagge des Islamischen Staates in seinem Zimmer und offenbar ein Drohvideo, das nun aufgetaucht ist. In 60 Prozent der Fälle sprechen die sogenannten einsamen Wölfe vorher mit Freunden, Bekannten oder der Familie über ihre Radikalisierung – oder sogar über konkrete Anschlagspläne."
Es fällt schwer zu glauben, dass die IS-Führung einen jungen Mann ausgerechnet mit einem Anschlag in einer fränkischen Kleinstadt beauftragt. Dennoch kam das Bekenntnis sehr schnell.
Neumann: "Das ist Teil der Strategie: Auf der einen Seite die komplexen Operationen, die aus Syrien heraus organisiert werden, auf der anderen Seite das Inspirieren von Einzeltätern zu vergleichsweise kleinen Anschlägen, die der IS für sich beansprucht."
Welche Bedeutung haben solche kleinen Anschläge für den IS?
Neumann: "Sehr einfache Aktionen lassen sich fast unmöglich verhindern und können einen unglaublich terrorisierenden Effekt haben. Das hat der IS besser und früher verstanden als zum Beispiel El Kaida, die erst als letztes Mittel auf einsame Wölfe gesetzt hat. Der IS macht das von Anfang an und sehr konsequent. Diese Anschläge lösen große Panik aus und haben auch politische Effekte: Sie haben absolutes Potenzial, die Debatten in unseren Gesellschaften zu verändern, offene Gesellschaften zu spalten, Polarisierungen zu verstärken und dadurch Situationen zu schaffen, in denen sich weitere Leute radikalisieren. Das ist ein Teufelskreis, den man verhindern muss."
"Die Tat verlief genau nach Anleitung des IS"
Und gespaltene Gesellschaften und Destabilisierung der politischen Lage sind genau das Ziel der Terroristen?
Neumann: "Ja. Und sie haben Erfolg. In Frankreich ist der politische Nutznießer des Terrors der rechtsextreme Front National, und in Deutschland kann man sich auch gut vorstellen, dass auf der rechtspopulistischen Seite diese Sache zynisch ausgeschlachtet wird. Die Tat wird die Debatte über Flüchtlinge neu befeuern."
Gibt es Gemeinsamkeiten zu dem Anschlag von Nizza?
Neumann: "Es scheint das gleiche Muster zu sein. Der Täter ist wieder ein einsamer Wolf, jemand, der sich schnell radikalisiert hat. Und die Tat verlief genau nach Anleitung des IS. Seit September 2014 fordert der IS seine Anhänger auf, etwas auf eigene Faust zu tun, wenn sie nicht nach Syrien kommen können. Auf der Liste der Vorschläge stehen unter anderem, mit einem Auto in eine Menschenmenge zu fahren oder Leute mit einem Messer anzugreifen."
Peter Neumann, 41, ist Politikwissenschaftler aus Würzburg und gilt als einer der renommiertesten Terrorismusexperten der Welt.
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