Anna spricht leise, und man muss sich ein wenig nach vorne neigen, um sie genau zu verstehen. Ihren größten Wunsch flüstert sie fast: „Ich möchte gerne wie ein ganz normaler Mensch leben!“
Anna wurde mit dem Gendefekt Trisomie 21 geboren. Aber die Zunge ist ihr nicht im Weg, wenn sie redet, wie das bei anderen Menschen mit Down-Syndrom oft der Fall ist. Die 20-Jährige kann sich gut ausdrücken, hat sogar den Hauptschulabschluss geschafft. Mittlerweile arbeitet sie als Raumpflegerin, ist ganz normal kranken- und rentenversichert. Eigentlich stünde ihrem Wunsch nichts im Wege. Eigentlich.
Anna ist eine aparte junge Frau – dunkelblonde Haare, leichte Föhnwelle. Sie lächelt. Um ihren Hals baumelt eine Kette mit einem Goldherzchen. Wer nicht genau hinsieht, bemerkt die typischen Merkmale des Down-Syndroms wie die leicht schräg stehenden Augen gar nicht. Was vor allem auffällt, ist ihre Größe: Sie ist 1,40 Meter klein.
Menschen wie Anna werden immer weniger
Dass Menschen wie Anna in Normalität leben können, ist nicht so einfach, wie man sich das vorstellt. Politisch sind die Weichen zwar gestellt. Die Bundesrepublik hat sich 2007 mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention verpflichtet, Menschen mit Behinderung eine „wirkliche Teilhabe an einer freien Gesellschaft“ zu ermöglichen. Aber die Realität sieht anders aus. In den Köpfen und Herzen vieler scheint diese Botschaft jedenfalls noch nicht angekommen zu sein.
Das könnte auch daran liegen, dass Menschen wie Anna immer weniger werden. Die meisten Eltern wollen heute wissen, ob ihr Kind Down-Syndrom hat. In der Schwangerschaft können sie das inzwischen völlig gefahrlos per Bluttest untersuchen lassen. Steht die Diagnose „Trisomie 21“ im Raum, entscheiden sich inzwischen neun von zehn Müttern und Vätern für eine Abtreibung. Vielleicht also werden Menschen wie Anna bald ganz verschwinden.
Anna wurde geboren, als es noch keine einfachen Bluttests gab, die hätten nachweisen können, dass sie das Chromosom 21 drei- statt zweimal besitzt. Ihre Eltern hatten sich wegen der damaligen Risiken einer Fruchtwasseruntersuchung gegen einen Test entschieden. Und doch wollten sie so etwas wie Gewissheit haben. Weil Annas Mutter damals schon älter als 35 Jahre war und sie Probleme in der Schwangerschaft hatte, suchten sie einen Spezialisten in München auf, um per Ultraschall eine Prognose zu bekommen. „Unauffällig“, lautete der Befund.
"Ich erlebte diese Zeit wie in Trance"
Wie schwierig die erste Zeit nach der Geburt war, haben die Eltern bis heute nicht vergessen. Selbst jetzt, nach über 20 Jahren, können sie sich sehr genau daran erinnern, wie sie darunter litten, dass ihr Kind mit einem Gendefekt zur Welt kam. „Ich erlebte diese Zeit wie in Trance“, sagt der Vater. Seine Frau wiederum akzeptierte ihr Kind vom ersten Moment an. Und dann gab es auch Erleichterung. Es stellte sich heraus: Das Baby hat keinen Herzfehler, wie das bei etwa 60 Prozent der Trisomie-21-Kinder der Fall ist. Die Chancen standen also gut, dass sich die kleine Anna fast so entwickeln würde wie jedes andere Kind auch. Und tatsächlich: Mit 18 Monaten konnte sie laufen, mit drei Jahren war sie „sauber“.
Doch von Anfang an erlebte die Familie Hürden. Das begann beim Klinikpsychologen, der den Eltern prognostizierte, Anna werde als Erwachsene durchaus in der Lage sein, nach Aufforderung einen Gartenschlauch zu holen. Im Kindergarten oder in der Schule dann, berichtet der Vater, schlug dem Mädchen zunächst vor allem Ablehnung entgegen. Anna sollte eine Schule für geistig Behinderte besuchen. Das wollten aber die Eltern nicht, die ihrer Tochter mehr zutrauten als die für die Einschulung zuständigen Experten. Intelligenztests ergaben völlig unterschiedliche Werte zwischen 40 und 100. Nach einer Vorstellungsodyssee an den unterschiedlichsten Schulen fand sich für Anna schließlich ein Platz an der Förderschule in Königsbrunn.
„Ich bin gerne in die Schule gegangen“, erinnert sich Anna. Die Eltern haben sie gefördert, wo es möglich war. So schaffte das Kind sogar die neunte Klasse mit einem Hauptschulabschluss – und „einem Einser in Geschichte“, fügt die junge Frau mit einem Lächeln hinzu. Neben Geschichte seien Englisch und Sport ihre Lieblingsfächer gewesen. Nur mit Mathe habe sie sich schwergetan.
Doch da sind nicht nur positive Erinnerungen: Es hat auch Zeiten gegeben, da hätten ihre Mitschüler sie gehänselt und tief verletzt, sagt der Vater. Doch zum Glück sei Anna ein positiver Mensch, der anderen nichts nachträgt.
---Trennung _Die Realität ist keine Fernsehschnulze_ Trennung---
Zusammen mit ihren zwei nicht behinderten Geschwistern lebt die junge Frau daheim bei den Eltern in Bobingen (Landkreis Augsburg). Dort hat sie auch in ihrer Freizeit volles Programm: Sie liebt Fotografie und tanzt für ihr Leben gern – mit ihrer Mama Jazz Dance und allein Ballett. Im Januar hat sie einen Auftritt. Dafür übt sie zielstrebig, trainiert jeden Tag. Man fühlt sich erinnert an die ZDF-Weihnachtsserie von 1987, als die durch einen Unfall querschnittgelähmte Anna Pelzer sich zurück ins Leben kämpft.
Aber die Realität ist keine Fernsehschnulze, und Anna ist sich im Klaren darüber, dass sie wohl nie Profitänzerin wird. Ihr geht es beim Ballett um den Spaß und die Leichtigkeit, die sie sich mit Ehrgeiz erarbeitet. „Anna braucht manchmal länger, sie muss mehr üben als andere, aber sie kann das alles erlernen“, berichtet die Mutter.
Anna und ihre Eltern sitzen in dem weitläufigen Wohnzimmer mit Blick auf den Swimmingpool im großen Garten. Es ist gemütlich, auf dem Tisch stehen schon Plätzchen. Die Eltern werben für einen offenen Umgang mit ihrem Kind. Arbeitgeber, Schulen, Sportvereine sollten sich öffnen, die Vorurteile gegen mongoloide Kinder, wie man sie wegen ihrer schräg gestellten Augen früher diskriminierend nannte, über Bord werfen. „Down-Syndrom ist schließlich nicht ansteckend“, betont der Vater.
Manche tragen mit 20 Jahren noch Windeln
Zahlen und Fakten zum Downsyndrom
Auf annähernd 700 Geburten kommt nach Angaben des Arbeitskreises Downsyndrom durchschnittlich ein Kind mit Trisomie 21. Das sind jährlich knapp 1200 Neugeborene.
Weltweit leben etwa fünf Millionen Menschen mit Downsyndrom, verteilt auf alle Bevölkerungsschichten.
Das Downsyndrom geht auf eine Besonderheit im Erbgut zurück: Betroffene haben einen Erbgutabschnitt, ein sogenanntes Chromosom, zu viel.
Das Chromosom 21 liegt bei ihnen nicht wie im Normalfall zweifach, sondern dreifach vor. Daher kommt auch die Bezeichnung Trisomie (Verdreifachung) 21. Die genaue Ursache für die Zellteilungsstörung ist noch unbekannt.
95 Prozent der Menschen mit Downsyndrom haben eine sogenannte freie Trisomie 21, die nicht erblich ist.
Charakteristisch sind körperliche Auffälligkeiten und eine verminderte Intelligenz. Typische organische Probleme sind Herzfehler, Magen-Darm-Störungen und Demenz.
Wissenschaftlich als eigenständiges Syndrom beschrieben wurde das Downsyndrom erstmals vom englischen Apotheker und Neurologen John Langdon Haydon Down (1828-1896) im Jahr 1866.
Mit höherem Alter der Eltern steigt die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Downsyndrom zu bekommen, exponentiell an. Im Schnitt sind Frauen heute beim ersten Kind 29,6 Jahre alt, 1980 waren sie noch 25,2 Jahre alt.
Der Bluttest, mit dem frühzeitig erkannt werden kann, ob ein Kind das Downsyndrom hat, ermittelt auch die Wahrscheinlichkeit für eine Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) und eine Trisomie 13 (Pätau-Syndrom). Die meisten Kinder sterben noch während der Schwangerschaft oder nach der Geburt. Auch eine Fehlverteilung der Geschlechtschromosomen X und Y erkennt der Test sowie das DiGeorge-Syndrom, bei dem das Kind einen Herzfehler haben, entwicklungsverzögert oder behindert sein kann.(leab/dpa)
Seine Frau räumt aber auch ein: „Es gibt sicher ganz viele Kinder mit Down-Syndrom, deren Leben nicht so positiv verläuft wie das von Anna.“ In der Tat: Menschen mit Trisomie 21 unterscheiden sich sehr. Es gibt verschlossene, bockige Typen, an die man nach der Pubertät nicht mehr rankommt. Es gibt Menschen, die auch mit zunehmendem Alter nicht lernen, ihre Emotionen zu zügeln. Manche tragen mit 20 Jahren noch Windeln.
Bei Anna lief es zum Glück anders: Das liegt einerseits daran, dass sie ohne größere Krankheiten durch die Kindheit kam. Und natürlich hat sie von ihrem Umfeld profitiert: Ihr Vater ist ein erfolgreicher Anwalt, die Mutter konnte ihren Beruf aufgeben und sich ganz in den Dienst ihrer Kinder stellen. „Ich habe das gerne gemacht und würde es jederzeit wieder tun“, sagt sie. Und dass es längst nicht mehr vom Einkommen abhängt, wie gut Kinder mit Down-Syndrom gefördert werden.
Trotzdem liegt sie in der Luft – die große Gewissensfrage: Hätte sie abgetrieben, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Kind diesen genetischen Defekt hat? Annas Mutter wirkt nachdenklich, schluckt, nimmt sich Zeit für die Antwort. Am Ende sagt sie: „Nicht wegen mir, aber, wenn ich gewusst hätte, was auf Anna alles zukommt und wie sehr sie darunter schon leiden musste, dann bin ich mir nicht sicher...“ Sie spricht den Satz nicht zu Ende.
Es mag am immer höheren Druck der Leistungsgesellschaft liegen oder an den Diagnoseverfahren, die ausgereifter werden: Nicht nur in Deutschland, auch in den Niederlanden und in Dänemark steigt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche. „Seit in Dänemark flächendeckend pränatale Untersuchungen eingeführt wurden, hat sich die Zahl der Neugeborenen mit Down-Syndrom binnen eines Jahres halbiert“, berichtet Die Zeit. So wie es aussieht, könnte die Zahl dort bald auf null sinken – also jedes Ungeborene mit der Diagnose Down-Syndrom abgetrieben werden. Gut möglich, dass das auch in Deutschland passiert, wenn der Bluttest als Kassenleistung kommt, wie es derzeit diskutiert wird.
"Wollen wir wirklich den Designermenschen?"
Dies wäre im Sinn des umstrittenen britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins, der vor zwei Jahren über das soziale Netzwerk Twitter zur Abtreibung aller Föten mit Down-Syndrom geraten hat. Das klingt, als gäbe es in unserer Gesellschaft keinen Platz mehr für sie. Die erschreckende Vorstellung einer behindertenfreien Gesellschaft wird hier mit medizinischem Nachdruck verfolgt.
Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger, ehemaliges Mitglied des Deutschen Ethikrates, hält das für falsch: Es gehe um das Leben des ungeborenen Kindes und darum, wo der Optimierungswahn des Menschen ende. „Wollen wir wirklich den Designermenschen?“, fragt er sich. „Und wie passt das zur Inklusion?“ Also der Idee einer Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird – unabhängig von Behinderungen.
Mit solchen Gedanken quält sich Anna nicht, obwohl sie wahrscheinlich mehr über ihr Leben nachdenkt, als es andere tun. Sie freut sich über jeden Tag, an dem sie Menschen begegnet, die sie nicht als Behinderte wahrnehmen, sondern als ganz normalen Menschen. Und die junge Frau hat ein großes Ziel: Sie will in absehbarer Zeit von daheim ausziehen, ihr eigenes Leben führen, eigene Freunde finden. Denn noch ist ihr Freundeskreis außerhalb der Familie überschaubar. Dass sie all das schaffen wird, davon sind ihre Eltern überzeugt: Die Mutter bestätigt: „Anna gibt nie auf!“ Der 20-Jährigen huscht ein zartes Lächeln übers Gesicht. Sie nickt zustimmend. Nie aufgeben – das ist das Motto ihres Lebens.