Es ist der Moment, den viele vorausgeahnt und Joe Biden wohl am meisten gefürchtet hat: Um nach 20 langen Jahren weitere amerikanische Opfer am fernen Hindukusch zu vermeiden, hat der Präsident gleich zu Beginn seiner Amtszeit den Abzug aller Truppen aus Afghanistan befohlen. Nun verlieren genau dabei viele Menschen ihr Leben.
Wenn man dem Präsidenten in den vergangenen Tagen genau zugehört hat, dann hat der mächtigste Mann der Welt seine Bürger vorsichtig auf dieses tragische Paradox vorbereitet: "Ich kann nicht garantieren, dass der Ausgang ohne Risiko oder Verluste sein wird", hat er schon am vergangenen Freitag gesagt. Am Sonntag warnte er, dass Terroristen einen Anschlag auf Zivilisten und Soldaten am Kabuler Flughafen verüben könnten: "Eine Menge kann noch schiefgehen."
Terror am Flughafen: In Kabul ist die abstrakte Gefahr Realität geworden
Doch nun, da die abstrakte Gefahr zur grausamen Realität geworden ist und die Fernsehstationen seit Stunden Bilder von blutüberströmten Menschen vor dem Tor des Airports zeigen, die auf Bahren oder in Schubkarren transportiert werden, fühlt es sich doch anders an. Es war kurz vor zehn Uhr am Donnerstagmorgen in Washington, als Pentagon-Sprecher John Kirby erstmals eine Explosion bestätigte. Erst ist von drei verwundeten US-Soldaten die Rede. Doch bis zum späten Nachmittag, als Biden ans Rednerpult im East Room des Weißen Hauses tritt, ist aus einem für Kabuler Verhältnisse eher mittelschweren Zwischenfall ein Fiasko geworden, das die Präsidentschaft des 78-Jährigen überschatten wird.
Selbstmordattentäter der islamistischen Terrormiliz IS haben mindestens hundert Menschen - darunter 13 Angehörige des US-Militärs - in den Tod gebombt. Ein Blutbad diesen Ausmaßes haben die Amerikaner in Afghanistan seit einem Jahrzehnt nicht mehr erlebt. In der Innentasche seiner Anzugjacke trägt Biden stets eine Karte bei sich, auf der die Opferzahlen aus Afghanistan vermerkt sind. Insgesamt 2400 US-Soldaten sind dort seit Beginn des Krieges im Jahr 2001 ums Leben gekommen. Nun muss der Präsident, der dieses Leid eigentlich beenden wollte, die Zahl nach oben korrigieren - unter seiner eigenen politischen Verantwortung.
Dilemma für US-Präsident Joe Biden
Es gehört zum Dilemma von Joe Biden, dass der Afghanistan-Krieg weitgehend aus dem Bewusstsein der Amerikaner verschwunden war, bis der Präsident im Frühjahr den definitiven Rückzug zum 31. August verkündete. Kein einziger US-Soldat wurde im vergangenen Jahr von den militant-islamistischen Taliban getötet. Das war wohl die Gegenleistung für einen Deal mit Ex-Präsident Donald Trump, der den amerikanischen Abzug versprach. Vorbereitet hatte er dieses gewaltige Manöver nicht, als er drei Monate vor dem ursprünglich versprochenen Datum aus dem Amt schied. Im Gegenteil stoppte er die Visavergabe an afghanische Ortskräfte. So erbte Biden das schwierigste letzte Kapitel einer zwanzigjährigen Tragödie, die drei Präsidenten vor ihm nicht zu lösen vermochten. Und seither ist der Konflikt zu seinem Problem geworden.
Von der beinahe brutalen Nüchternheit und Kühle, mit der der Präsident seit Mitte des Monats alle Kritik an der chaotischen Durchführung des Einsatzendes zurückgewiesen hat, ist nichts zu spüren, als Biden nun das Wort ergreift. "Es war ein harter Tag", beginnt er eine emotionale Ansprache mit belegter Stimme. Mehrmals verhaspelt er sich. "Aufgebracht und todunglücklich" seien seine Frau Jill und er, sagt er und spricht den Angehörigen der getöteten "Helden" sein Beileid aus. Da stehen Tränen in seinen Augen.
US-Präsident Biden: "Wir werden Euch jagen und Euch dafür zahlen lassen"
Nach ein paar Minuten findet Biden in die Rolle des Oberkommandierenden zurück. Mit scharfem Ton droht er den Verantwortlichen des Massakers blutige Vergeltung an: "Wir werden Euch nicht vergeben. Wir werden nicht vergessen. Wir werden Euch jagen und Euch dafür zahlen lassen." Da klingt der Anti-Kriegs-Präsident plötzlich genauso wie sein Vor-Vor-Vorgänger George W. Bush, der den Einsatz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begann. "Wir werden Euch jagen und Euch dafür zahlen lassen", hatte auch er den Attentätern gedroht.
Biden hat sich den ganzen Tag mit seinen Sicherheitsberatern und Militärs konsultiert. Gemeinsam, berichtet der Präsident, habe man entschieden, dass die Evakuierungsaktion wie geplant fortgesetzt werden soll: "Wir lassen uns nicht durch Terroristen abschrecken." Mehr als 100.000 Menschen haben die Amerikaner und ihre Verbündeten seit dem Fall Kabuls am 14. August aus Afghanistan ausgeflogen. Am Hamid Karzai International Airport, vor dessen Südtor sich die verheerenden Anschläge ereigneten, haben sie eine der größten Luftbrücken der Geschichte aus dem Boden gestampft.
Der US-Präsident trägt die politische Verantwortung für ein Dutzend Tote
So beeindruckend sind die Zahlen der in den vergangenen Tagen geretteten Menschen, dass mancher Kommentator in den USA schon mutmaßte, langfristig könne Biden trotz der massiven medialen Kritik am Chaos und der Verzweiflung rund um den Flughafen bei den kriegsmüden Amerikanern vielleicht doch damit punkten, dass er den endlosen Einsatz in Afghanistan beendete. Im Grunde schien der rasante Kollaps der afghanischen Armee Bidens Argument zu bestätigen, dass die Schlacht am Hindukusch nicht zu gewinnen sei. Der Terroranschlag vom Donnerstag wiederum bestätigt seine Warnung vor den enormen Gefahren einer verlängerten Truppenpräsenz.
Doch seit diesem schwärzesten Tag seiner Amtszeit trägt der Präsident die politische Verantwortung für mehr als ein Dutzend toter Amerikaner und eine Mission, deren Verlauf ganz offensichtlich nicht mehr in Washington entschieden wird. Viel spricht dafür, dass die Attentäter durch die äußere Personenkontrolle geschlüpft sind, die eigentlich von den Taliban vorgenommen werden soll. Immer klarer ist auch, dass die Amerikaner nicht nur Zehntausende afghanische Ortskräfte, sondern auch zahlreiche Landsleute zurücklassen müssen. Rund 1000 US-Bürger sollen sich noch im Land aufhalten, der Großteil will raus, doch viele kommen derzeit nicht zum Flughafen.
USA drohen mit Vergeltung: Die Jagd auf die IS-Attentäter wird weitergehen
"Ich kenne keinen Konflikt der Geschichte, bei dem man am Ende eines Krieges jedem, der herauskommen will, dafür eine Garantie geben kann", verteidigt sich der Präsident. Und als die Reporter kritisch nachhaken, argumentiert er erneut, es hätte nur eine Alternative zum Abzug gegeben: "Ich hätte noch einmal tausende Soldaten schicken und erneut einen Krieg führen müssen, den wir - gemessen an unseren ursprünglichen Zielen - schon gewonnen haben." An einen Export der demokratischen Ordnung hat Biden nie geglaubt. Das eigentliche Ziel des Einsatzes war für ihn die Ausschaltung des Al-Kaida-Führers Osama bin Laden und die Beendigung der Terrorgefahr für den Westen. Am dauerhaften Erfolg der letzten Mission freilich nährt der blutige Donnerstag arge Zweifel: Die Amerikaner lassen ein Land im Aufruhr und am Rande des Bürgerkriegs zurück, in dem erkennnbar verschiedene islamistische Gruppen um die Macht kämpfen.
"Es war Zeit, einen 20-jährigen Krieg zu beenden", sagt Biden gleichwohl mit fester Stimme, bevor er das Rednerpult verlässt und durch eine Tür des Saals verschwindet. Den Konflikt am Hindukusch freilich kann er nicht so einfach hinter sich lassen. Nicht nur wird nach dem Abzug der rund 6000 US-Soldaten die Jagd auf die IS-Attentäter weitergehen. Auch deutet der Präsident an, dass mit diplomatischen und geheimdienstlichen Mitteln in den kommenden Wochen und Monaten möglichst viele der im Land zurückgebliebenen Amerikaner herausgeholt werden sollen. Innenpolitisch dürfte der chaotische Abzug den Präsidenten noch lange belasten. Schon fordern Trump-treue Republikaner seinen Rücktritt. Doch auch Demokraten wie die Abgeordnete Susan Wild aus Pennsylvania monieren, Dass "der Evakuierungsprozess unglaublich schlecht organisiert" sei. Das Bild des erfahrenen und kompetenten Außenpolitikers hat arge Schrammen bekommen.
Am Flughafen in Kabul droht in den kommenden Tagen große Gefahr
Die verbleibenden vier Tage bis zum offiziellen Monatsende dürften nun zur gefährlichsten Phase der Mission werden. Ganz offen spricht der Kommandeur des US-Zentralkommandos Centcom, General Kenneth McKenzie, bei einer Pressekonferenz im Pentagon über die drohenden Gefahren: Statt Sprengstoffwesten zu verwenden könnten die IS-Terroristen auch ein Auto in die Menschenmenge vor dem Flughafen steuern und detonieren lassen. Der Albtraum aber wäre, dass sie mit einer Boden-Luft-Rakete ein Flugzeug mit Flüchtenden vom Himmel holen.
Nüchtern sagt der General ein bedrückendes Wochenende voraus: "Wir erwarten, dass die Anschläge fortgesetzt werden." Da bekommt die Floskel "May God protect our troops" (Möge Gott unsere Truppen beschützen), mit der Joe Biden regelmäßig seine Reden beschließt, plötzlich einen beklemmend konkreten Sinn.