Das Phänomen, das heute „Arabischer Frühling“ genannt wird, beginnt zum Jahreswechsel 2010/11 zunächst in Tunesien, Ägypten und Algerien – es folgen viele weitere Länder. Heute weiß man, dass in den meisten Staaten, in denen die Menschen gegen Willkür, Korruption und autoritäre Herrscher auf die Straße gingen, auf diesen Frühling kein Sommer, sondern bald der Herbst oder gar ein bitterer Winter folgen sollte. In Syrien scheint es zunächst, als könnte der berüchtigte Geheimdienst des Regimes von Präsident Baschar al-Assad das Übergreifen der Proteste verhindern.
Bis Jugendliche am 15. März 2011 die Parole „Das Volk will den Sturz des Regimes“ an eine Mauer der im Süden des Landes gelegenen Pilgerstadt Daraa sprühen. Der Staat schlägt routiniert zurück. Die Teenager landen im Gefängnis. Doch diesmal ist alles anders: Aufgebrachte Syrer protestieren gegen die Verhaftung. Über Smartphones und Internet verbreitet sich die Nachricht in rasender Geschwindigkeit. Eine Woche später reißen große Demonstrationen in vielen Städten das Assad-Regime aus seiner Selbstgewissheit. Soldaten schießen in die Menschenmenge, es gibt hunderte Todesopfer. Nachdem sich auch Regierungsgegner bewaffnen, taumelt Syrien in einen erbitterten bewaffneten Konflikt. Viele Soldaten der zunächst rund 300.000 Mann starken Streitkräfte desertieren.
Wie aus dem Nichts erschienen Terrorgruppen in Syrien
Wie aus dem Nichts erscheinen Terrorgruppen im Land – wie 2012 die radikalislamistische sunnitische Al-Nusra-Front. Deren Milizen schließen sich später den noch radikaleren und schlagkräftigeren Kämpfern des Islamischen Staates (IS) an. Die Führer des IS rufen 2014 ein Kalifat aus. Hunderttausende sterben bei den Kämpfen, Millionen von Syrern fliehen. Sie suchen im Kriegsland oder im Ausland – insbesondere in Europa – Schutz. Die Terrorgruppe IS hält in Syrien und dem Irak bis ins Jahr 2017 selbstverwaltete Territorien und erschüttert die Welt mit einer blutigen Serie von Anschlägen. Der Konflikt internationalisiert sich weiter. Das Eingreifen Russlands rettet das Assad-Regime vor der sicheren Niederlage.
Zurück in die Gegenwart: Neun Jahre nach Ausbruch des Krieges meldet Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, dass alle zehn Stunden in Syrien ein Kind durch den Krieg stirbt. Die Spanne zwischen dem 15. März 2011 und dem 15. März 2020 ist angefüllt mit Tod, Gewalt, Angriffen mit Chemiewaffen, aber immer wieder auch mit aufflackernder, dann wieder erlöschender Hoffnung auf ein Ende des Gemetzels.
Despot Assad strebt nach der Kontrolle über ganz Syrien
So wurde aus friedlichen Protesten ein Bürgerkrieg, aus dem Bürgerkrieg ein internationaler Stellvertreterkrieg, für den das Land bis heute die zerschossene Kulisse bietet. Der syrische Präsident Assad, der die Macht vor 20 Jahren von seinem Vater Hafiz Assad ererbte, lässt keinen Zweifel daran, dass der aktuelle Waffenstillstand in der Schlacht um die letzte große Rebellen-Enklave Idlib ihn nicht daran hindern wird, die Kontrolle über das ganze Land zurückzugewinnen. In der Tat war es bisher immer so, dass die Truppen des Regimes das vorübergehende Schweigen der Geschütze dazu nutzten, eine neue, noch durchschlagendere Offensive vorzubereiten. Der Westen sah in den Wochen vor der Waffenruhe hilflos zu, wie russische und syrische Bomben auf Idlib fielen. Eine perfide Taktik: Denn Ziele sind auch Kliniken, Märkte oder Schulen. Der europäische Druck auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin, derartige Kriegsverbrechen nachhaltig zu stoppen, blieb marginal.
Die Türkei wird keine Konfrontation mit Russland riskieren
Die USA haben sich schrittweise aus dem Konflikt verabschiedet und die verbündeten kurdischen Milizen im Norden, die lange die Hauptlast im Kampf gegen den IS getragen haben, schnöde im Stich gelassen. Die Türkei, die aufseiten der Rebellen eingegriffen hat, wird keine Konfrontation mit Russland riskieren. So dürften die Kämpfe um Idlib in absehbarer Zeit wieder aufflammen. Im Interesse der eingeschlossenen Menschen sollte Ankara überlegen, ob es nicht sinnvoller wäre, die teils radikalislamistischen Milizen in Idlib zur Aufgabe zu bewegen.
Assad wird ahnen, dass er auch nach einem militärischen Sieg kaum unumschränkter Herr über die Trümmerwüste sein wird, die vom Staat Syrien übrig geblieben ist. Er wird von Moskau abhängig bleiben, weiß aber gleichzeitig, dass er nicht auf Russlands entschlossene Unterstützung beim Wiederaufbau setzen kann. Assads Gegner fürchten die gnadenlose Rache des Despoten. Ein Neuanfang für Syrien scheint in weiter Ferne zu liegen.
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