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Foto: Matthias Bein, dpa
Foto: Matthias Bein, dpa

Die Heimbewohnerin Edith Kwoizalla war mit ihren 101 Jahren die erste, die gegen Corona geimpft wurde.

Analyse
31.12.2020

Privilegien für Geimpfte? Die Wirtschaft könnte Fakten schaffen

Von Margit Hufnagel, Simon Kaminski

Die ersten Menschen sind gegen das Coronavirus geimpft. Brauchen wir Privilegien für Geimpfte? CDU und SPD wollen das verhindern. So einfach ist die Sache nicht.

Als Edith Kwoizalla geboren wurde, wütete gerade die Spanische Grippe. Millionen Menschen kostete das Virus das Leben – mehr als im gesamten Ersten Weltkrieg. Mit elektrischen Lichtbädern und Schwitzkuren, fragwürdigen Arzneimitteln und dem Verzicht auf enge Kleidung sollte der Pandemie Einhalt geboten werden. Massenveranstaltungen wurden abgesagt, New York stellte das Spucken auf der Straße unter Strafe. Eine Impfung gegen das Virus gab es nicht. Heute ist Edith Kwoizalla 101 Jahre alt und durchlebt die zweite Pandemie ihres Lebens. Und sie sieht, wie viel mehr Waffen der Menschheit gegen ein Virus zur Verfügung stehen. Die Seniorin aus Sachsen-Anhalt war die erste Frau in Deutschland, die gegen das Coronavirus geimpft wurde. Ein Meilenstein.

Corona-Impfung: Jeder Piks ein Stück Hoffnung

Jeder Piks ist ein Stück Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität. Je länger die Krise anhält, umso größer werden die Ungeduld und der Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität. Kaum eine Woche nach dem Start der bundesweiten Impfaktion rückt daher eine Frage in den Mittelpunkt: Sollten Menschen, die gegen Corona geimpft sind, wieder ins Restaurant, ins Kino, zu Konzerten gehen dürfen? Wäre es ethisch und juristisch vertretbar, dass Nicht-Geimpfte künftig von Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen werden? Oder umgekehrt: Ist es sinnvoll, dass jene, die sich nicht impfen lassen wollen, die gesamte Gesellschaft länger zum Stillstand zwingen als nötig?

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Foto: Michele Tantussi, Reuters, Pool, dpa
Foto: Michele Tantussi, Reuters, Pool, dpa

Die Impfkampagne startet holprig. Dennoch hält Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) an seinem Ziel fest, dass jeder bis zum Sommer ein Impfangebot erhält.

Noch ist es eine theoretische Diskussion: In den nächsten Wochen können nur die allerwenigsten geimpft werden, sehr alte Menschen und Pflegepersonal. Aber was, wenn mehr Impfstoff kommt? Immerhin hatte sich Gesundheitsminister Jens Spahn zuversichtlich gezeigt, dass jedem bis zum Sommer ein Impfangebot gemacht werden kann. Sein Credo: „Gegen die Pandemie kämpfen wir gemeinsam – und wir werden sie nur gemeinsam überwinden“, sagt Spahn. Er fürchtet, dass die Diskussion Wasser auf den Mühlen von Impfgegnern sein könnte, die seit langem argwöhnen, dass die Impfpflicht über Umwege eingeführt wird. Von Privilegien will Spahn deshalb nichts hören, eine indirekte Impfpflicht werde es mit ihm nicht geben, beteuert er.

Impfpflicht: Die Privatwirtschaft könnte Fakten schaffen

Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn die Privatwirtschaft könnte Fakten schaffen: Die australische Fluggesellschaft Qantas etwa will zumindest auf Interkontinentalflügen eine Impfpflicht für ihre Passagiere einführen. Sobald ein Impfstoff verfügbar sei, würden die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Airline entsprechend angepasst, sagte Qantas-Chef Alan Joyce. Selbst wenn es in Deutschland noch keine konkreten Vorstöße gibt: Supermärkte haben die Möglichkeit, ihr Hausrecht anzuwenden und nach dem Impfpass zu fragen. Taxifahrern steht es zu, nur noch Kunden zu befördern, die immunisiert sind. Und es gibt noch weitaus sensiblere Bereiche. Auch Pflegeanbieter etwa könnten künftig die ambulante und stationäre Pflege von Menschen ohne Corona-Impfschutz ablehnen. Theoretisch ist also vieles machbar. Und praktisch? Schon jetzt gibt es eine faktische Impfpflicht – gegen Masern: Wer nicht geimpft ist, darf seit dem 1. März nicht mehr in den Kindergarten und die Schule.

„Rechtlich gesehen gäbe es im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz keine Handhabe für Nichtgeimpfte, gegen mögliche Ungleichbehandlungen bei Alltagsgeschäften vorzugehen – es fehlt das sogenannte Diskriminierungsmerkmal“, erklärt Sebastian Bickerich, Sprecher der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, unserer Redaktion. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet nur eine Diskriminierung aufgrund von Umständen, auf die Menschen keinen Einfluss haben. Solange der Impfstoff Mangelware ist, könnte also genau dieser Passus greifen – er entfällt allerdings, sobald genügend Impfdosen zur Verfügung stehen. Wenn der Gesetzgeber also Vorsorge treffen wolle, dass Nichtgeimpften keine Nachteile entstehen, müsste er das konkret regeln. Bickerich gibt allerdings zu bedenken: „Im Einzelfall könnte es auch dann sachliche Gründe geben, die Ungleichbehandlungen rechtfertigen – beispielsweise der Schutz der Beschäftigten in einem Supermarkt oder des Zugpersonals.“ Das könnte auch die Politik schnell in ein Dilemma stürzen.

Die SPD will ein neues Gesetz prüfen

Denn die SPD hat bereits angekündigt, das sie prüfen will, wie Privilegien für Geimpfte per Gesetz verhindern könnten. Sonderrechte würden die Gesellschaft spalten, vor allem, wenn, wie zum jetzigen Zeitpunkt, viele Fragen ungeklärt seien. „Es steht noch nicht einmal fest, dass Geimpfte nicht mehr ansteckend sind“, sagt Johannes Fechner, der rechtspolitische Sprecher der Fraktion. Tatsächlich ist bisher zumindest denkbar, dass ein Geimpfter bei Kontakt mit dem Erreger zwar selbst nicht erkrankt, das Virus aber an andere weitergeben kann, wie das Robert-Koch-Institut erklärt. „Jetzt ist die solidarische Gesellschaft gefragt“, sagt Fechner. Der Staat unterstütze bewusst die Wirtschaft, die Gastronomie etwa bekomme massive finanzielle Hilfen, die die Einnahmeausfälle zumindest zum Teil auffangen sollen – die Solidarität ist dem Staat also durchaus einiges wert. Die Frage ist: Kann und will er sich das auch noch leisten, wenn die Finanzspritzen theoretisch wegfallen könnten? Der SPD-Politiker Fechner baut darauf, dass sich die Debatte ohnehin bald von selbst erledigen wird. Denn anders als bei Masern ist bei Corona eine Impflücke weit weniger problematisch. Mediziner sagen voraus, dass es ausreicht, wenn 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung gegen das Corona-Virus geimpft sind. „Wenn wir das mit Freiwilligkeit schaffen, brauchen wir auch keinen direkten oder indirekten Impfzwang“, sagt Johannes Fechner.

Doch ein Blick über die Grenze zeigt, dass auch andere Länder überlegen, wie sie mit Impfverweigerern umgehen. Spanien will Bürger, die sich nicht impfen lassen wollen, in einem Register erfassen. Jeder Bürger werde entsprechend des Impfplanes eine Einladung zu einem Impftermin erhalten, kündigte Gesundheitsminister Salvador Illa an. Die Impfung sei zwar freiwillig, aber wer der Einladung nicht folge, werde registriert. Das Register sei nicht öffentlich und der Datenschutz werde rigoros sein, aber die Daten würden „europäischen Partnern“ zur Verfügung gestellt.

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Foto: Christoph Schmidt, dpa
Foto: Christoph Schmidt, dpa

Dürfen an diesen Tischen eines Tages nur Gäste mit einer Corona-Impfbescheinigung Platz nehmen?

Auch in der FDP ist man davon überzeugt, dass der mittelfristige Weg durch die Krise auf eine stärkere Differenzierung hinauslaufen muss. „Die ganze Debatte wird durch medizinische, rechtliche und politische Missverständnisse überlagert“, sagt Marco Buschmann, Erster parlamentarischer Geschäftsführer seiner Partei. „Wir können sie aber mit Vernunft und den Wertentscheidungen unserer Verfassung auflösen.“ Dreh- und Angelpunkt dafür sei natürlich der Nachweis, ob geimpfte Personen selber noch erkranken oder andere Menschen anstecken können. „Wenn das ausgeschlossen ist, stellen sie weder für sich noch andere eine Gefahr dar“, sagt Buschmann. „Dann kann man sie wohl kaum Regeln unterwerfen, deren Begründung genau eine solche Infektions- oder Erkrankungsgefahr voraussetzt.“ Bislang sei die Debatte freilich jedoch rein theoretisch, da der Nachweis fehlender Infektionsgefahren durch geimpfte Personen noch ausstehe.

Medizinrechtler hält es falsch, von Privilegien zu sprechen

Das sieht der Fachanwalt für Medizinrecht, Alexander Ehlers, genauso. Für den Münchner Jurist und Mediziner liegt auf der Hand, dass es „verfassungswidrig wäre, die verfassungsrechtlichen Rechte geimpfter Personen zu beschneiden, wenn medizinisch erwiesen ist, dass Geimpfte nicht ansteckend sind und gesichert ist, dass jeder die Möglichkeit hat, sich impfen zu lassen“. Ehlers stört ganz grundsätzlich die Richtung, die die Debatte in den letzten Tagen genommen hat. „Die Diskussion hat einen falschen Ansatzpunkt. Die Rede ist von Privilegien und Sonderrechten, die Menschen mit Impfpass erhalten könnten. Doch dabei geht es um durch das Grundgesetz geschützte Freiheitsrechte, die nur in der aktuellen Ausnahmesituation für uns alle stark eingeschränkt werden dürfen“, sagt der Professor. Viele Politiker sind peinlich bemüht, jeden Anschein zu vermeiden, dass mit ihnen eine Impflicht zu machen sei. Auch Ehlers hofft, dass dieser Zwang nicht kommen muss, wenn ein großer Teil der Bevölkerung bei den Impfungen mitzieht. Anders sehe es aber aus, wenn die Impfzahlen zu gering bleiben sollten und eine unkontrollierbare pandemische Verbreitung drohe. Dann könne auf Basis des Infektionsschutzgesetzes und mit Zustimmung des Bundesrates eine Impfpflicht durchaus kommen.

Dem Medizinrechtler ist klar, dass die Forderungen nach gesellschaftlichem Zusammenhalt ein wichtiger Aspekt in der Corona-Pandemie ist. Allerdings sei „Solidarität kein verfassungsrechtliches Argument, sondern ein politisch-ethischer Aspekt.“ Immerhin würde beispielsweise die Lufthansa andere Fluggäste und ihr Personal schützen, wenn sie nur Geimpfte mitfliegen lassen würde.

Mit wachsendem Unbehagen verfolgt Alexander Ehlers die Forderungen aus der Politik, mit einem neuen Gesetz dafür zu sorgen, dass eine Gleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften festschreiben soll. „Diese Diskussion ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Ein solches Gesetz ist verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Es würde Individuen dauerhaft Freiheitsrechte entziehen, obwohl sie keine Gefahr für Leben und Gesundheit anderer darstellen.“

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