Ein Überraschungscoup ist es zwar nicht. Und doch sieht das Rennen um die amerikanische Präsidentschaft plötzlich ganz anders aus. Zuvor standen – bei allen fundamentalen persönlichen und politischen Unterschieden – zwei weiße Männer jenseits der Siebzig gegeneinander. Nun kommt mit Kamala Harris das jüngere, das weibliche und das schwarze Amerika ins Spiel. Und auf einmal freut man sich auf die Debatten der kommenden Wochen.
Joe Biden wählt Kamala Harris als Stellvertreterin - das ergibt politisch Sinn
Der demokratische Präsidentschaftskandidat Joe Biden hat sich mit der Auswahl seiner Stellvertreterin viel Zeit gelassen. Nun hat er sich für die entschieden, die insgeheim länger als Favoritin galt. Das mag jene verwundern, die sich noch an die scharfen Attacken der kalifornischen Senatorin gegen den damaligen Wettbewerber um die Präsidentschaftskandidatur im vergangenen Sommer erinnern. Doch es macht politisch Sinn: Die 55-jährige Tochter einer indischen Mutter und eines jamaikanischen Vaters verfügt über Regierungserfahrung. Sie ist eine eloquente Rhetorikerin. Sie steht Biden mit ihrem Pragmatismus nahe. Und sie würde als erste schwarze Vizepräsidentin ein historisches Signal aussenden.
Die persönlichen Reibereien aus der Debatte des vergangenen Sommers sind offenbar längst vergessen. Tatsächlich sind Biden und Harris seit langem bekannt. Als damalige Generalstaatsanwältin von Kalifornien arbeitete Harris eng mit Bidens verstorbenem Lieblingssohn zusammen. Diese persönliche Ebene spielt für Biden eine große Rolle: Der 77-Jährige hat immer erklärt, dass er eine Stellvertreterin sucht, der er vertrauen kann.
Dass der Posten an eine Frau gehen würde, hatte Biden schon vor längerer Zeit verkündet. Nach den aufgefühlten Protesten gegen Rassismus verstärkte sich in der Partei auch der Druck für eine schwarze Kandidatin. Damit haben die linke Senatorin Elizabeth Warren und Gretchen Whitmer, die Gouverneurin von Michigan, das Nachsehen. Warren wäre programmatisch möglicherweise die spannendere Wahl gewesen. Sie hätte inhaltlich aber auch mehr Reibungsfläche mit Biden gehabt. Als schwarze Kandidatin konkurrierte Harris vor allem mit der ehemaligen Sicherheitsberaterin Susan Rice. Die hätte nun aber nicht nur vollständig das alte Establishment verkörpert, sondern auch den Eindruck einer Obama-Nostalgie-Paarung genährt.
Kamala Harris: Sie vertritt das junge, weibliche und schwarze US-Amerika
Mit Kamala Harris tritt eine wortgewandte, selbstbewusste und ambitionierte Frau in die erste Reihe der Demokraten. Joe Biden hat seine eigene Kandidatur als eine Brücke von den Ungeheuerlichkeiten der Trump-Zeit zurück zur Normalität bezeichnet. Seine mehr als zwanzig Jahre jüngere Stellvertreterin weist weit darüber hinaus. Sie hat sich wie Biden ursprünglich um die Präsidentschaft beworben. Es wäre ein Wunder, wenn ihr Interesse an dem Amt in vier Jahren erloschen wäre.
Dieser Ehrgeiz, der ihr von manchen Kommentatoren vorgeworfen wird, muss kein Fehler sein. Immerhin wäre Biden bei der nächsten Wahl 81 Jahre alt. Gut möglich, dass er sich selbst nur als Übergangskandidat für eine Wahlperiode sieht. Problematischer ist der Verdacht, dass die Juristin für den politischen Erfolg bisweilen auch ihre Positionen wechselt. Nicht nur ihre Attacke gegen Biden in der Debatte wirkte ziemlich inszeniert. Auch andere Positionen hat sich überraschend geräumt. Und bei den schwarzen Wählern muss sie noch kräftig um Vertrauen werben: Als Staatsanwältin in Kalifornien von 2011 bis 2017 hat sie nämlich eine harte Politik betrieben und wenig gegen die nun viel kritisierte Polizeigewalt unternommen.
Diese Schwachstellen muss die Kandidatin in den nächsten Wochen bearbeiten. Als eloquente Kritikerin des Präsidenten Donald Trump hat sie sich längst qualifiziert. Sie ist in vielerlei Hinsicht das direkte Gegenteil des Amtsinhabers. Und mit ihrem pragmatischen Kurs nimmt sie der Angstkampagne der Republikaner, die Biden als senile Marionette einer weit nach links gerückten Partei diffamieren wollen, endgültig den Wind aus den Segeln. Es wird spannend in den kommenden Wochen. Der Kampf um das Weiße Haus ist nun endgültig eröffnet.
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