Veränderungen im weltweiten Machtgefüge vollziehen sich oft schleichend, manchmal aber auch mit einem großen Knall, durch ein weltweites Ereignis, das Strukturen ins Wanken bringt und Entwicklungen beschleunigt. Ein solches Ereignis könnte die längst globale Corona-Krise sein.
Seit dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump Anfang 2017 scheinen Strukturen, die lange als fest und belastbar galten, wie im Zeitraffer ihre Tragfähigkeit einzubüßen. „Das Ansehen der USA in Europa hat sich bereits vor Trump verschlechtert“, warnt die stellvertretende Direktorin des German Marshall Fund (GMF) in Berlin, Sudha David-Wilp, vor einer Verengung der Analyse auf den Präsidenten.
Die Pandemie verändert den Blick auf geostrategische Machtverhältnisse
Doch die Sprunghaftigkeit Trumps, seine aggressive Rhetorik und seine tiefe Abneigung gegen multilaterale Bündnisse wie die Nato oder die Europäische Union liegt nun mal auf dem Tisch. In dieser ohnehin schon angespannten Situation wirkt die Pandemie wie ein gigantischer Beschleuniger – und verändert den Blick auf geostrategische Machtverhältnisse. Dies belegt eine groß angelegte aktuelle Studie der unabhängigen US-Stiftung German Marshall Fund of the United States (GMF), des französischen Instituts Montaigne und der deutschen Bertelsmann Stiftung.
Befragt wurden für die Analyse 6000 Personen in den USA, Frankreich und Deutschland. Der Clou ist nun, dass die Umfrage zunächst im Januar 2020 – also vor dem Ausbruch der Pandemie – und dann im Mai, als das Coronavirus bereits die Welt in Atem hielt, wiederholt wurde. Die Zahlen sind bemerkenswert, für die USA sind sie alarmierend. Die Führung in Peking dürfte sich hingegen freuen. Während in Deutschland und Frankreich noch im Januar zwölf bzw. 13 Prozent der Befragten China als das einflussreichste Land bezeichneten, waren es im Mai bereits 28 und 20 Prozent.
Die USA, da sind sich Franzosen und Deutsche einig, sind nach wie vor der mächtigste Staat auf der Erdkugel. Aber: Diese Sichtweise teilten zwischen Nordsee und Alpen im Januar noch 62 Prozent, im Mai waren es nur noch 54 Prozent. Gleichzeitig scheint sich auszuzahlen, dass Deutschland im internationalen Vergleich nach Ansicht der Befragten mit der Corona-Krise vergleichsweise erfolgreich umgegangen ist. In Frankreich – dort wütete die Pandemie besonders heftig – stieg der Anteil derjenigen, die dem Land zubilligten, die einflussreichste Macht in Europa zu sein, ebenfalls deutlich von 64 auf 72 Prozent.
Die Corona-Zahlen in den USA sind eine Katastrophe
Was die USA betrifft, liegen die Gründe auf der Hand: Zuletzt wurde eine Rekordzahl von mehr als 55.000 Corona-Neuinfektionen binnen 24 Stunden gemeldet. Damit haben sich fast 2,7 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert, rund 130.000 starben. Dass Präsident Donald Trump seine Anhänger allen Ernstes dazu aufrief, weniger zu testen, damit die Zahlen heruntergehen, wurde weltweit mit Fassungslosigkeit quittiert. „Trump hat gleich drei große Probleme: Das ist der desaströse Verlauf der Corona-Krise mit katastrophalen Werten, die daraus resultierende Wirtschaftskrise und die sozialen Unruhen nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd in Polizeigewalt.“
Was passiert im November? Erlöst die Wahl die Gegner des umstrittenen Amtsinhabers? Stand heute spreche „einiges dafür, dass Biden bei den Präsidentschaftswahlen gegen Trump gewinnen kann“, glaubt David-Wilp. „Der Präsident macht einfach zu viele unnötige Fehler. Allerdings wird erst in vier Monaten gewählt, das kann in der Politik eine Ewigkeit sein.“ Ist – umgekehrt gefragt – also alles wieder gut, wenn Trump das neue Jahr nicht mehr im Weißen Haus begrüßen kann? David-Wilp glaubt, dass „es für Deutschland und Europa leichter“ sein werde, wenn Joe Biden die Wahlen gewinnt. Allerdings werde der Demokrat dann „alle Hände voll zu tun haben, sich mit den Folgen der Trump-Präsidentschaft wie Corona, Arbeitslosigkeit und der gesellschaftlichen Spaltung auseinanderzusetzen“.
Deutschland wird spürbar mehr Einfluss attestiert
Deutschland hat in der Zeitspanne von Januar bis Mai in den Augen der Befragten weiter potenziell an Einfluss gewonnen. Die Frage ist, wie sich dieser Zugewinn politisch umsetzen lässt. David-Wilp hat klare Erwartungen an Berlin. „Deutschland kommt immer stärker in eine Führungsrolle, ob man das will oder nicht. Es wird darum gehen, die große Herausforderung durch die aggressive Politik Chinas, aber auch Russlands anzunehmen.“ Und das nach Möglichkeit an der Seite der Vereinigten Staaten, denn man dürfe „ja nicht vergessen, dass die USA und Deutschland nach wie vor im Grundsatz die gleichen Werte teilen“ würden.
Nicht zuletzt aus dieser Überzeugung heraus kritisiert die Wissenschaftlerin auch einzelne Aspekte deutscher Außenpolitik: „Das Energieprojekt Nord Stream ist für mich ein Beispiel dafür, dass Deutschland Entscheidungen aus ökonomischer Sicht trifft, ohne ausreichend die strategischen und sicherheitspolitischen Folgen zu beachten. Das wird nicht nur in den USA zu Recht kritisiert, sondern auch in Europa als unsolidarisch empfunden.“
Die Möglichkeiten für eine Renaissance der einst so engen transatlantischen Bande schätzt David-Wilp optimistisch ein. Und zwar auch, weil das Standing Deutschlands in den USA weit besser sei, als es die aktuellen Verstimmungen nahelegen würden. Trumps Attacken gegen Deutschland und Kanzlerin Merkel bei Wahlveranstaltungen würden nicht besonders gut ankommen, hat David-Wilp beobachtet. „Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass die Menschen diese Situation oft mit einem verschämten Lächeln überspielen.
Deutschland ist in den USA nach wie vor eher positiv besetzt. Gilt das auch, wenn das eintritt, was viele fürchten – wenn also Trump eine weitere Amtsperiode an der Spitze der USA bleibt? Ein Quantum Trost hält Sudha David-Wilp auch für diesen Fall bereit: „Sollte es Trump wieder schaffen, dann ist es immerhin beruhigend, dass sich Republikaner und Demokraten darin einig sind, dass die Nato unbedingt erhalten und gestärkt werden muss.“
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