Startseite
Icon Pfeil nach unten
Politik
Icon Pfeil nach unten

Analyse: Für Libyen ist keine Rettung in Sicht

Analyse

Für Libyen ist keine Rettung in Sicht

    • |
    Entsetzen. Lärm, Angst – ein Kämpfer der international anerkannten Regierung gerät unter Beschuss. Kriesgsalltag in einem gescheiterten Staat.
    Entsetzen. Lärm, Angst – ein Kämpfer der international anerkannten Regierung gerät unter Beschuss. Kriesgsalltag in einem gescheiterten Staat. Foto: Salahuddien, dpa

    Bürgerkrieg, hemmungslose Einflussnahme von außen, hunderttausende Flüchtlinge. Es ist kein Wunder, dass Libyen wieder an dem Punkt steht, an dem es schon oft stand: am Abgrund. Gut vorstellbar, dass Kanzlerin Angela Merkel und Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag bei ihrem Treffen im südfranzösischen Fort de Brégançon, der mondänen Residenz des französischen Staatschefs, mit Sorgenfalten auf den Horizont des Mittelmeeres in Richtung Libyen geschaut haben. Beide wissen, dass die Dauerkrise in dem nordafrikanischen Land jedes Potenzial hat, sich zu einer internationalen Katastrophe auszuweiten.

    Wie konnte es dazu kommen? Das Gebiet, das heute Libyen heißt, wurde früher Tripolitanien genannt – begehrt wegen seiner Bodenschätze und der fruchtbaren Küstenregionen. Erst kamen die Spanier, dann die Osmanen, später die Italiener als Kolonialmächte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs das Nationalgefühl der Libyer. 1951 entstand ein souveräner Staat. Bis 1969 war das erwachende Libyen ein Königreich, dann putschte sich 1969 Muammar al-Gaddafi an die Macht. Eine Ära, die 2011 infolge der Arabischen Revolution blutig endete. Der Diktator kam unter ungeklärten Umständen ums Leben, als ihn Milizen des Nationalen Übergangsrates am 20. Oktober 2011 auf der Flucht festnahmen.

    Lange Zeit hofierte der Westen Libyens Diktator Gaddafi

    Noch immer wird erbittert diskutiert, ob es Libyen mit seinen rund 6,5 Millionen Einwohnern besser gehen würde, wenn Frankreich mit Rückendeckung der Nato 2011 nicht den Sturz von Gaddafi, den der Westen über Jahre hofiert hatte, militärisch forciert hätte. Es sollte aber nicht unter den Tisch fallen, dass der schillernde Diktator in seinen legendären Fantasieuniformen tausende von Gegner foltern und umbringen ließ.

    Unstrittig dürfte im Rückblick sein, dass es ein fataler Fehler war, dass sich der Westen nach dem Zusammenbruch des Regimes aus der Verantwortung stahl und fast tatenlos zusah, wie das Land im Chaos mit tausenden von Toten versank. Ohne zentrale Autorität, ohne Gesetze besannen sich die Libyer auf eine Struktur, die hunderte von Jahren alt ist: die Stammesordnung. Die Fliehkräfte, die Gaddafi nur mit Unterdrückung und skrupellosen Geheimdiensten bändigen konnte, entfalteten sich. Nach 2011 brachen alte Gegensätze wieder auf, wurden offene Rechnungen zwischen den Clans und Warlords beglichen.

    Die staatlichen Strukturen in Libyen sind vollständig zerrüttet

    Was macht die Situation in Libyen derart kompliziert? Es ist zunächst die nahezu vollständige Zerrüttung der staatlichen Strukturen, die das Land seit dem Sturz von Diktator Gaddafi lähmt. Der Konflikt lief schließlich auf die militärische Konfrontation zwischen zwei Kontrahenten hinaus – sieht man von den Tubo- und Tuareg-Milizen ab, die die dünn besiedelten Wüstengebiete im Süden kontrollieren. Auf der einen Seite die von den UN anerkannte Einheitsregierung von Ministerpräsident Fayiz al-Sarradsch. Im Gegenüber stehen General Chalifa Haftar und seine Rebellen-Milizen. Lange sah es so aus, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis der Regierungschef von den Rebellen auch aus der Hauptstadt vertrieben werden würde.

    Doch es kam anders. Denn es gelang den Regierungstruppen mit Hilfe aus dem Ausland, nicht nur Tripolis zu verteidigen, sondern auch die Angreifer empfindlich zu schwächen. Die militärische Offensive scheiterte im April 2019 kläglich – die Rebellen mussten sich gar aus dem strategisch und ökonomisch wichtigen Nordwesten des Landes zurückzuziehen. Eine unerwartete Niederlage für den Gegenspieler des Ministerpräsidenten: General Haftar war sich sicher, dass die militärische Schlagkraft seiner „Libyschen Nationalarmee“ ausreichen würde, um den Krieg für sich zu entscheiden. Schließlich kann er auf Kämpfer setzen, die das Kriegshandwerk in den Streitkräften Gaddafis erlernt haben.

    Schutz vor Corona, Schutz vor Schussverletzungen: Bundesaußenminister Heiko Maas bei seinem Besuch des Krisenstaates Libyen. 
    Schutz vor Corona, Schutz vor Schussverletzungen: Bundesaußenminister Heiko Maas bei seinem Besuch des Krisenstaates Libyen.  Foto: Michael Fischer, dpa

    Ausländische Mächte unterstützen die Kriegsparteien in Libyen

    Um den Konflikt zu verstehen, muss man wissen, welche ausländischen Mächte hinter den jeweiligen Kontrahenten steht. Haftar wird massiv von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Russland unterstützt. Zumindest indirekt geben auch die USA und Frankreich dem Rebellengeneral Rückendeckung. Die Türkei hingegen hat sich frühzeitig offen auf die Seite von al-Sarradsch in Tripolis gestellt. Auch die frühere Kolonialmacht Italien unterstützt die anerkannte Regierung. Rom fürchtete von Anfang an, dass eine Niederlage der Regierung in kurzer Zeit dazu führen würde, dass bei einem weiteren Kontrollverlust an der libyschen Küste noch mehr Flüchtlinge die lebensgefährliche Überfahrt gen Norden riskieren würden. Nach einer Erhebung der UN befinden sich rund 60.000 registrierte Flüchtlinge und Asylsuchende in dem Bürgerkriegsland, deutlich höher ist die ebenfalls nur grob taxierte Zahl der Migranten, die hoffen, nach Europa zu gelangen: Die Rede ist von 600.000 bis 900.000 Menschen.

    Der Sprecher der UNHCR für Libyen, Charlie Yaxley, schilderte vor einiger Zeit das Elend der Flüchtlinge im ARD-Magazin „Panorama“ drastisch. Die Frauen, Männer und Kinder sind Übergriffen aller Art bis zu Folter und Vergewaltigungen oft schutzlos ausgeliefert. „Wir sind nicht länger in der Lage, minimale Sicherheitsstandards für die Flüchtlinge zu garantieren“, sagte Yaxley mit einem resignierenden Klang in der Stimme. Wie extrem mittlerweile Drittstaaten den Verlauf des Krieges beeinflussen, hat Wolfram Lacher von der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) anhand des gescheiterten Versuchs der Rebellentruppen um General Haftar, Tripolis einzunehmen, herausgearbeitet. Der profunde Libyen-Kenner analysiert, wie der massive Einsatz türkischer Militärs die Regierung al-Sarradsch im April gerettet hat. Hinzu kam, wie Lacher ausführt, dass Haftars militärische Schlagkraft entscheidend dadurch geschwächt wurde, dass sich die Söldner des russischen Militärunternehmens Wagner nicht an der Offensive beteiligten. Alles kein Zufall: „Haftars Offensive fiel einer türkisch-russischen Abmachung zum Opfer“, fasst Lacher zusammen.

    Kämpfer der international anerkannten Regierung feuern ihre Waffen auf die Streitkräfte der selbsternannten Libyschen Nationalen Armee ab.
    Kämpfer der international anerkannten Regierung feuern ihre Waffen auf die Streitkräfte der selbsternannten Libyschen Nationalen Armee ab. Foto: Amru Salahuddien, dpa

    Ankara geht es nicht zuletzt um submarine Bodenschätze

    Natürlich verfolgt auch Ankara eine ganz spezielle Agenda in diesem Konflikt. So stoppte Präsident Recep Tayyip Erdogan zwischenzeitlich die Hilfe für Tripolis. Erst als die Regierung im Herbst des vergangenen Jahres ein Abkommen über die umstrittenen Seegrenzen im östlichen Mittelmeer signierte, setzte die militärische Hilfe wieder ein. Ankara hofft, auf diese Weise an die begehrten submarinen Bodenschätze der Region zu gelangen. Diese Beispiele zeigen, dass in Libyen längst ein Stellvertreterkrieg tobt – so wie in Syrien oder dem Jemen.

    Zwar schweigen aktuell die Waffen in dem faktisch geteilten Land. Eine politische Lösung des Konflikts ist gleichwohl nicht in Sicht. Der deutsche Außenminister Heiko Maas hat zuletzt – jüngst auch vor Ort – erneut für eine Verhandlungslösung geworben. Deutschland hatte mit dafür gesorgt, dass sich alle Akteure geeinigt hatten, keine Waffen in das Land zu liefern. Unterschrieben haben alle, gehalten hat sich kaum ein Staat an die Übereinkunft. Der von der Bundesregierung Anfang 2020 initiierte „Berliner Prozess“ sollte einen stabilen Waffenstillstand bringen. Dann – so der Plan – sollten die fremden Kriegsmächte davon überzeugt werden, ihre Einmischung zu beenden. Jetzt sei die Stunde der Diplomatie gekommen, sagte Maas. Doch jede Woche legen Schiffe mit militärischer Ausrüstung für die Kontrahenten in einem der vielen Häfen des Landes an, während Schlauchboote mit Flüchtlingen in See stechen. Der Westen sieht dem Treiben hilflos zu. Die USA – wie zuvor in Syrien – nur noch aus der Ferne.

    Lesen Sie auch:

    Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

    Diskutieren Sie mit
    0 Kommentare
    Dieser Artikel kann nicht mehr kommentiert werden