Die Grünen fürchten sich nicht mehr vor der Macht. Sie haben keine Angst davor, sich in der Regierung die Hände an der rauen Wirklichkeit schmutzig zu machen. Für eine Partei, die aus der Antihaltung zum System geboren wurde, ist dieser offene Wille zur Macht verblüffend. Anti-Atomkraft, Anti-Kapitalismus, Anti-Militarismus – das sind ihre Wurzeln.
Die neuen Grünen wollen bewusst Establishment sein, nicht mehr nur dagegen, sondern staatstragend (mehr dazu). Die wiedergewählten Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck haben es offen eingefordert. „Wir müssen nicht nur Ziele formulieren, wir müssen sie auch umsetzen, im Hier und Heute“, rief Baerbock den Mitgliedern auf dem Parteitag in Bielefeld zu. Habeck tat es ihr gleich: „Wir sind eine politische Kraft, die den Auftrag zur Gestaltung hat. Für diese Zeit sind wir gegründet worden, und jetzt lösen wir es ein.“
Ausgerechnet in Bielefeld. Genau vor 20 Jahren haben die Grünen in der Stadt in Ostwestfalen über den Kosovo-Einsatz der Bundeswehr gestritten. Den damaligen Außenminister Joschka Fischer traf ein Farbbeutel am Kopf, draußen demonstrierten die einstigen Geburtshelfer aus der Friedensbewegung gegen ihre Grünen. Der Verrat an der Sache, an den Idealen wurde lautstark betrauert.
Die wichtigsten Beschlüsse des Grünen-Parteitags
Die Wiederwahl der Doppelspitze Annalena Baerbock und Robert Habeck bestimmte am Wochenende die Agenda des Grünen-Parteitags in Bielefeld. Es gab aber auch eine Reihe inhaltlicher Beschlüsse:
Klimaschutz: Die Partei bleibt bei ihren Forderungen, schon bis 2030 aus der Kohle auszusteigen und ab 2030 keine Pkw mit Verbrennungsmotoren neu zuzulassen. Eine Änderung gab es aber beim CO2-Preis: 2020 soll er pro Tonne nun bei 60 Euro liegen und in Schritten von 20 Euro pro Jahr ansteigen - allerdings soll ein Gremium auch soziale Auswirkungen kontrollieren und gegebenenfalls eingreifen. Der Bundesvorstand wollte 60 Euro erst ein Jahr später und danach keinen Anstieg fix festlegen. Der CO2-Preis soll fossile Kraftstoffe, Heizöl und Erdgas verteuern. Die große Koalition will mit einem Preis von 10 Euro im Jahr 2021 einsteigen, der bis 2025 zunächst auf 35 Euro ansteigt - nicht als Steueraufschlag, sondern als Handel mit Verschmutzungsrechten.
Wirtschaft: Die Grünen fordern einen sozialen und ökologischen Umbau der Marktwirtschaft. Die Schuldenbremse soll für den Bund im Rahmen der EU-Regeln gelockert werden, damit der Staat deutlich mehr als bisher investieren kann. Ein ausdrückliches Bekenntnis zur Schuldenbremse für die Bundesländer wurde aus dem Leitantrag des Bundesvorstands gestrichen. Es war die einzige Abstimmung, in der die Delegierten sich gegen den Bundesvorstand durchsetzten - andere Konflikte wurden durch Änderungen in den Texten beigelegt. Der Mindestlohn soll von 9,19 auf 12 Euro pro Stunde angehoben werden. Das fordern auch schon Linke und SPD.
Wohnen: Den Beschluss, der für das größte Aufsehen sorgte, fassten die Grünen gleich zu Beginn des Parteitags. Bereits am Freitag verabschiedeten sie ein umfassendes Programm gegen steigende Mieten und Wohnungsmangel. Den Anstieg der Mieten in bestehenden Mietverträgen wollen sie bei drei Prozent pro Jahr deckeln. Mieter sollen ein Recht darauf bekommen, untereinander ihre Mietverträge zu tauschen. So sollen zum Beispiel Familien in größere und Singles in kleinere Wohnungen ziehen können, ohne einen neuen - und oft viel teureren - Mietvertrag abzuschließen. Das Recht auf Wohnen soll ins Grundgesetz, um es im Fall von juristischen Abwägungen zu stärken. Für den Bau von Sozialwohnungen soll es ein Investitionsprogramm des Bundes von mindestens drei Milliarden Euro jährlich geben. Im Gegenzug soll das Baukindergeld wieder abgeschafft werden.
Syrien: Wegen des türkischen Einmarschs in Nordsyrien haben die Grünen Sanktionen gegen den Nato-Partner, ein Ende des EU-Flüchtlingsabkommens sowie einen Stopp des Anti-IS-Einsatzes der Bundeswehr gefordert. Konkret geht es den Grünen um finanzielle Sanktionen gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan sowie Mitglieder der türkischen Regierung und des Militärs, einen kompletten Stopp aller Rüstungsexporte in die Türkei und einen Stopp der sogenannten Hermes-Bürgschaften zur Absicherung deutscher Exporte in die Türkei.
Die K-Frage: Wer wird Kanzlerkandidat der Grünen?
Zwei Jahrzehnte später herrscht begeisterte Eintracht. Die Delegierten bescherten Baerbock mit 97 Prozent das beste Ergebnis, das je ein Vorsitzender bekommen hat. Habeck kam auf 90 Prozent, was ebenfalls ein starkes Resultat ist. Habeck gratulierte seiner Co-Vorsitzenden als erstes. Sie hatte Tränen des Glücks in den Augen. Die Grünen verfügen über drei Vorteile, die sie derzeit den anderen Parteien überlegen machen.
Vorteil 1: Beide Parteichefs haben das Zeug zum Kanzler. SPD und CDU sind sich nicht sicher, ob sie überhaupt einen geeigneten Kandidaten oder eine geeignete Kandidatin haben. Gelingt es Habeck und Baerbock, ihr enges Verhältnis zu bewahren, können die Grünen im Wahlkampf mit zwei Sympathieträgern punkten. Treibt die K-Frage aber einen Keil zwischen sie und kommt es zu einem hässlichen Machtkampf, kann sich der Vorteil in einen Nachteil verwandeln. Derzeit ist völlig offen, wer von den beiden das Rennen macht. Habeck ist bekannter, Baerbock gilt in der Partei als besser vernetzt.
Vorteil 2: Die Partei wächst. Allein in diesem Jahr sind bis Oktober 18.000 Mitglieder eingetreten. Die Grünen kratzen an der 100.000er-Marke. Vor vier Jahren hatten sie nur rund 60.000 Mitglieder. Die Neueintritte machen die Partei jünger und weiblicher. Selbst im Osten Deutschlands – jahrelang ein weißer Fleck auf der Grünen-Landkarte, gewinnt die Partei Mitglieder. Sie stärken nicht nur die Kasse, sondern erschließen den Grünen neue Wählergruppen. Der Kampf gegen die Erderwärmung ist in vielen Milieus vermittelbar, die nicht zur klassischen Klientel gehören. Gleiches gilt für den Kampf gegen die AfD.
Grüne fordern Mindestlohn von zwölf Euro
Vorteil 3: Die Grünen bemühen sich aktiv um neue Verbündete in der Gesellschaft. Dazu zählen die Gewerkschaften. Sichtbarstes Zeichen dafür ist der Beschluss des Parteitags, den Mindestlohn auf zwölf Euro brutto je Stunde zu erhöhen. „Die besten Lobbyisten für zukunftsfähige Arbeitsplätze das sind die Gewerkschaften“, sagte Fraktionschef Anton Hofreiter in einer Rede. Diese bewusste Öffnung ist für die Gewerkschaften eine Chance, im Parteiensystem die Schwäche der SPD und der Linken durch eine andere Partei auszugleichen. Damit die Zusammenarbeit ein Erfolg werden kann, müssen die Grünen aber noch den Habitus der Partei der Café Latte schlürfenden Großstädter ablegen (mehr dazu).
Der Parteitag in Bielefeld wurde zur Kampfansage an die politischen Konkurrenten. Die Grünen trugen sie aber nicht verbissen, sondern mit einem Lächeln vor. Derzeit stehen sie in den Umfragen solide um die Marke von 20 Prozent. Ein guter Wahlkampf könnte sie bis auf 25 Prozent führen, heißt es. Gepaart mit der Schwäche von CDU und CSU könnte die einstige Anti-Partei dann mit viel Glück sogar Kanzlerpartei sein.