Seit die radikal-islamistischen Taliban die Macht in Afghanistan übernommen haben, regieren Chaos und Angst das Land. Es droht ein Schreckensregime, in dem Mädchen keine Bildung erhalten dürfen und Ehebrecherinnen gesteinigt werden. Doch zu dem tödlichen Anschlag in Kabul, bei dem Dutzende Menschen, darunter 13 US-Militärs, getötet wurden, bekannte sich eine Terrororganisation, die selbst den Taliban zu radikal ist. IS-K oder Isis-K – das steht für den afghanischen Ableger der berüchtigten Dschihadisten-Miliz „Islamischer Staat“.
Zwischen 2014 und 2019 kontrollierte der IS Teile von Syrien und dem Irak. In den beherrschten Gebieten kam es zu Massenhinrichtungen, Völkermord und Versklavungen. Während und nach dem Zerfall ihres sogenannten Kalifats sind viele IS-Kämpfer nach Afghanistan ausgewichen, wo sie sich neu formierten. Extreme Salafisten aus Afghanistan und vielen Ländern der Welt schlossen sich ihnen an. Zum IS-K liefen auch Taliban über, denen die eigenen Führer zu gemäßigt erschienen, weil sie etwa Gespräche mit den verhassten USA führten. Das „K“ steht für Khorasan, eine historische Region, die weite Teile Afghanistans, des Irans und Zentralasiens umfasst.
Zwischen den Islamisten gibt es Unterschiede
Schon der Name weist auf den aus Sicht westlicher Experten wohl bedeutendsten Unterschied hin: Während die Taliban das Ziel haben, aus Afghanistan ein islamistisches Emirat zu machen, setzt der IS auf Expansion und trachtet danach, seinen Terror hinaus in die ganze Welt, auch nach Europa, zu tragen. Die Fehde zwischen Taliban und IS hat auch mit dem Dauerkonflikt zwischen den beiden Hauptzweigen des Islam zu tun: Sunniten und Schiiten. Zwar sind beide Gruppen weit überwiegend sunnitisch geprägt. Die Taliban aber verfolgen die Schiiten im Gegensatz zu früher nicht mehr, sie wollen das Land hinter sich einen. Zudem paktieren sie mit dem schiitischen Iran. Die IS-K-Terrorristen dagegen verüben gezielt Anschläge auf die schiitische Hazara-Minderheit.
In den vergangenen Jahren kam es im Kampf gegen die IS–Terroristen in Afghanistan sogar mitunter zu einer informellen Zusammenarbeit zwischen Taliban und den USA, die die „Koranschüler“ mit Bomben oder Drohnenangriffen unterstützten. Gegen den IS setzen die Taliban zudem auf die eigene, gefürchtete Eliteeinheit: Die „Badri 313“, wohl in Pakistan ausgebildet, ausgerüstet mit Nachtsichtgeräten und modernen Waffen.
Al Kaida ist noch nicht besiegt
Weiter spielt in der erbitterten Konkurrenz radikal-islamistischer Gruppen auch das berüchtigte Al-Kaida-Netzwerk eine Rolle. Unter ihrem inzwischen von einem US-Kommando getöteten Führer Osama bin Laden konnte Al Kaida, geschützt vom ersten Taliban-Regime, die Anschläge des 11. September 2001 vorbereiten. Daraufhin begann die US-geführte Militäraktion am Hindukusch. Dass Al Kaida auf Konfrontationskurs zu den Taliban geht, gilt in Sicherheitskreisen als eher unwahrscheinlich. Eher könnten die Terroristen danach streben, sich im Schatten der Taliban neu zu formieren. Wie stark die Organisation in Afghanistan derzeit noch ist, ist unklar. Analysten gehen davon aus, dass Al Kaida aber keinesfalls besiegt ist und jederzeit wieder mit Terrorakten auf sich aufmerksam machen könnte. Auch, um sich gegenüber dem IS zu profilieren, der sich einst im Irak von Al Kaida abgespalten hatte.
Sollte sich Afghanistan unter der Herrschaft der Taliban wieder zum Paradies und Rückzugsraum des internationalen Terrorismus entwickeln, dürften die USA dem nicht tatenlos zusehen. Zwar scheint ein erneuter Einmarsch von Bodentruppen ausgeschlossen, nicht aber Luftangriffe oder gezielte Schläge mit Raketen und bewaffneten Drohnen.
Einige der berüchtigten Kriegsfürsten und Stammesführer, die im Afghanistan-Konflikt der vergangenen Jahrzehnte auf wechselnder Seite mitmischten, könnten auch in Zukunft wieder von sich reden machen. Der berüchtigte Milizenführer Rachid Dostum, der der usbekischen Minderheit entstammt, ist nach Usbekistan geflohen. Die Taliban – mehrheitlich Paschtunen – plünderten seinen pompösen Palast in Mazar-i-Sharif. Auch Kriegsfürst Atta Noor, zuletzt Gouverneur der Balkh-Provinz und ethnischer Tadschike, ist geflohen. Von beiden heißt es, dass sie auf eine Rückkehr lauern. Ismail Khan, ein weiterer Milizenführer, wurde dagegen in der Stadt Herat von den Taliban festgenommen.
Der Sohn des "Löwen von Panschir" stellt sich gegen die Taliban
Nur im 150 Kilometer von Kabul entfernten Pandschir-Tal, dessen schmaler Zugang sich leicht verteidigen lässt, haben die Taliban aktuell noch nicht die Macht übernommen. Dort versucht der 32-jährige Ahmad Massoud verzweifelt, Widerstand gegen die Taliban zu organisieren. Sein gleichnamiger Vater, auch bekannt als „Löwe von Pandschir“, hatte sich den Taliban bereits in ihrer ersten Regierungszeit entgegengestellt. Kurz vor den Anschlägen vom 11. September 2001 war er ermordet worden. Angeblich haben sich Teile der afghanischen Armee den Pandschir-Rebellen angeschlossen. Die Taliban haben das Tal, das von hohen Bergen umschlossen, eine natürliche Festung bildet, umzingelt – eine blutige Entscheidungsschlacht kann jederzeit losbrechen.
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