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Analyse: Corona-Krise: Lockern wir jetzt zu viel - oder zu wenig?

Analyse

Corona-Krise: Lockern wir jetzt zu viel - oder zu wenig?

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    In ganz Deutschland beginnt ab Montag die Zeit der Maskenpflicht beim Einkaufen und im öffentlichen Nahverkehr.
    In ganz Deutschland beginnt ab Montag die Zeit der Maskenpflicht beim Einkaufen und im öffentlichen Nahverkehr. Foto: Peter Kneffel, dpa

    Am Ende dieser neuerlichen Woche im Ausnahmezustand blieb ein Wort: Öffnungsdiskussionsorgie. Der Neologismus, mit dem die Kanzlerin – in einer internen Sitzung – die zunehmende politische Kakofonie im Umgang mit Sars-CoV-2 einzudämmen versuchte, machte auf viele den Eindruck eines Merkelschen Maulkorbes, so, als ob die demokratische Diskussion selbst unter Quarantäne gestellt würde.

    Im Bundestag benutzte sie das Wort freilich nicht, warnte dennoch vor einem "zu forschen" Vorgehen bei den ab Montag auch in Bayern geltenden Lockerungen, derweil die Zustimmung zu den restriktiven Maßnahmen in der Bevölkerung zurückgehen. Kein Wunder, möchte man sagen, hat die Kanzlerin doch selbst nach der letzten Schalte mit den Ministerpräsidenten den Geist aus der Flasche gelassen, hatte man zuletzt ein mitunter widersprüchliches Bild abgegeben: Lockern wir zu viel? Zu wenig? Hängen blieb vor allem: Lockern. Aber was kommt als Nächstes? Und warum kann einem das niemand sagen? Ein Blick auf (nicht nur politisch) dramatische Wochen.

    Zahl der Corona-Infizierten steigt zu Beginn der Krise steil nach oben

    Nachdem Anfang März laut Robert-Koch-Institut (RKI) gerade mal 150 bestätigte Fälle in Deutschland gemeldet waren, gibt es jetzt – knapp zwei Monate später – mehr als das Tausendfache davon. Das Virus breitete sich also exponentiell aus, und zu den täglich veröffentlichten, steil ansteigenden Kurven gab es Bilder aus Norditalien zu sehen, Bilder von überfordertem Krankenhauspersonal, Bilder von Särgen, die das das Militär abtransportieren musste, Bilder einer Katastrophe.

    Geht man mit einer US-amerikanischen Studie davon aus, dass mindestens fünf Prozent der an Covid-19 Erkrankten intensivmedizinisch behandelt werden müssen, kann man sich leicht ausrechnen, wie schnell selbst unser Gesundheitssystem an seine Grenzen kommen würde. Die erste Losung deshalb: Die Kurve flach halten.

    Bundeskanzlerin Angelka Merkel verkündet Ende März Kontaktverbot

    Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bis dahin ihrem Gesundheitsminister Jens Spahn ("Deutschland ist gut vorbereitet") das Krisenmanagement überlassen und auf öffentliche Einlassungen weitgehend verzichtet hatte, sich am 13. März zum ersten Mal zur Sache äußerte (Stand damals: 3795 Fälle), lautete ihre Vorgabe deshalb: "Zeit gewinnen!" Fünf Tage später (10.999) wandte sich Merkel dann zum ersten Mal überhaupt in einer Fernsehansprache direkt an die Bevölkerung, sprach von der "größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg", am 22. März (22.672) erfolgte dann der Beschluss eines allgemeinen Kontaktverbots von Bund und Ländern, indes die Fallzahlen weiter stiegen.

    Gerade aber weil die Kurve erst einmal weiter steil anstieg und das Ziel der Abflachung ein klares war, stießen die drastischen Einschnitte auf hohe Zustimmungswerte. Mittlerweile sinken diese Werte allerdings merklich, wie sowohl Befragungen als auch die Auswertungen von Mobilfunkdaten beziehungsweise daraus ableitbare Bewegungsmuster der Menschen zeigen.

    Corona-Krise: Anfang April kommt die Reproduktionsrate R ins Spiel

    Was war passiert? Nachdem am 1. April (73.522 Fälle) die Beschränkungen von Bund und Ländern noch einmal bis nach Ostern verlängert wurden, gab es erste Diskussionen und Forderungen, wie man schrittweise wieder in eine wie auch immer geartete Normalität übergehen könne. Und während sich die Menschen angewöhnt haben, auf Fallzahlen und die immer wieder auch von Angela Merkel angeführten Verdoppelungsraten zu schauen, als diese sich tatsächlich positiv entwickelten, kam mehr und mehr ein weiterer Faktor ins öffentliche Spiel: die Reproduktionsrate R.

    Während also viele davon ausgingen, das Ziel sei mit dem Abflachen der Kurve und der immer weiter gedehnten Verdoppelungsrate erreicht, dozierte auch die Bundeskanzlerin in der Pressekonferenz vom 15. April (130.450 Fälle) von jenem Reproduktionsfaktor, also der Zahl, wie viele Menschen ein Mensch statistisch ansteckt – und begründete damit, bei allen angekündigten Lockerungen etwa, was Geschäftsleben und Schulen anbelangt, die Verlängerung der Kontaktsperren bis 4. Mai.

    Ja, was denn nun? Die letzten Tage machte zudem eine vom RKI veröffentlichte Grafik die Runde, wonach diese Reproduktionszahl schon am 23. März, also zu Beginn der allgemeinen Kontaktbeschränkungen – so wie ungefähr aktuell – beim Faktor 1 lag. War alles also umsonst, ein, wie in sozialen Medien kolportiert, großer Quatsch gar? Kaum. Der Quatsch ist eher das. Denn erstens wurde der Wert aufgrund Verzögerung der Meldedaten erst im Nachhinein berechnet, zweitens gab es ja schon vorher Beschränkungen (Schule, Veranstaltungen, Gastronomie) und ein messbar verändertes Verhalten der Bevölkerung. Zumal: Was heißt das schon, ein Faktor 1?

    Drei Modelle zur Bewältigung der Corona-Pandemie haben sich herausgebildet

    Wissenschaft ist derzeit hoch im Kurs, und dabei wird gerne übersehen, dass diese Wissen schafft, indem sie frühere Irrtümer widerlegt. Es liegt nun nahe, dass im Falle eines neuartigen Virus wie Sars-CoV-2 Irrtümer oder der Bereich des Nichtwissens groß ist. Mittlerweile haben sich allerdings drei grundsätzliche Modelle herausgebildet, nachdem der Ansatz der "Herdenimmunität" bei aller Unsicherheit der Datenlage deutlich mehr Todesfälle als die anfangs vielfach zum Vergleich herangezogene Influenza verursacht hätte.

    Verkürzt sind dies: zum einen das besagte, dauerhafte Abflachen der Kurve, damit das Gesundheitssystem leistungsfähig bleibt. Zum anderen eine Art Zick-Zack-Strategie, wie sie vom Imperial College in London skizziert wurde, also eine Abfolge aus Beschränkungen und Lockerungen je nach aktuellen Fallzahlen. Und zum Dritten eine Art "Austrocknung" des Virus ähnlich wie in Südkorea. Auch das Helmholtz-Zentrum hat ein solches Vorgehen zuletzt empfohlen, also die Ausbreitung des Virus stoppen, um überhaupt in der Lage zu sein, einzelne Ausbrüche wieder zu verfolgen und isolieren, ansonsten aber weitgehend normal leben zu können. Voraussetzung dafür allerdings: ein Reproduktionsfaktor sehr sehr deutlich unter 1. Und die Politik? Reagierte zuletzt mit besagten Lockerungsübungen.

    Die Politik muss das nächste Ziel in der Corona-Krise benennen

    Politik ist aber natürlich nicht Wissenschaft, die, zumal ja wie beschrieben, selbst und naturgemäß uneins, Politik muss vielmehr Interessen aushandeln – und eigene Interessen verfolgen. So lassen sich die letzten Beschlüsse, in denen eben auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Ansprüche einfließen, in denen um Quadratmeterzahlen Verkaufsfläche gefeilscht wird, aber auch das Schaulaufen etwa zwischen Armin Laschet und Markus Söder oder zunehmend zwischen den Parteien erklären. Umso wichtiger wäre bei all der ja begrüßenswerten, sich wieder einstellenden Normalität des Politischen aber, dass Politik erklärt, was das nächste Ziel ist.

    Es wird – anders ist es in einem Gemeinwesen wie dem unserem kaum möglich – wohl ein Mittelweg sein, also irgendwie R = 1. Das wird aber bedeuten, dass wir uns auf sehr lange Zeit an Masken (auch als Symbole, mit denen Lockerungen vollzogen werden können) und Einschränkungen gewöhnen müssen. Es ist zudem ein riskanter Weg, und wenn wir ihn gehen wollen in diese "neue Normalität", so muss das jemand deutlich sagen.

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