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Analyse: Abzug oder nicht? Afghanistan schaut auf die USA

Analyse

Abzug oder nicht? Afghanistan schaut auf die USA

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    Ein US-Soldat genießt den Blick auf die Berglandschaft Afghanistans. Wie die Aussichten für das Bürgerkriegsland sind, hängt eng mit der künftigen Rolle der USA zusammen.
    Ein US-Soldat genießt den Blick auf die Berglandschaft Afghanistans. Wie die Aussichten für das Bürgerkriegsland sind, hängt eng mit der künftigen Rolle der USA zusammen. Foto: Gregory Brook, dpa

    Exakt 94 Tage hatten die Taliban und die afghanische Regierung in Doha verhandelt. Die Bilder der Rebellenführer vor dem luxuriösen Tagungssaal gingen um die Welt. Dann, im Dezember 2020 gab es eine Pause. Nach dem Jahreswechsel, am 5. Januar, sollte es weitergehen. Doch die Taliban sind bisher nicht in die Hauptstadt Katars zurückgekehrt. „Alle warten darauf, wie sich die neue US-Regierung positioniert“, sagt der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig im Gespräch mit unserer Redaktion. Unverkennbar ist, dass Präsident Joe Biden und sein Außenminister Antony Blinken die Rolle der USA als Weltmacht in Zukunft wieder viel intensiver und vor allem nachhaltiger ausfüllen wollen als die Vorgängerregierung unter Donald Trump.

    Zu Afghanistan äußerte sich der neue US-Präsident Joe Biden bisher nicht

    „Wir sind zurück“, sagte Biden in seiner ersten großen außenpolitischen Rede am Donnerstag. Er wurde konkret, kündigte eine neue Strategie im Jemen-Krieg und einen Stopp der Abzugspläne für in Deutschland stationierter US-Soldaten an. Zu Afghanistan sagte er nichts.

    Ein afghanischer Sicherheitsbeamter Soldat sitzt an einem Geschütz. Die Zahl der Anschläge in Kabul hat zuletzt wieder deutlich zugenommen.
    Ein afghanischer Sicherheitsbeamter Soldat sitzt an einem Geschütz. Die Zahl der Anschläge in Kabul hat zuletzt wieder deutlich zugenommen. Foto: Rahmat Gul, AP, dpa

    Diese Ungewissheit scheint nicht zuletzt die islamistischen Taliban nervös zu machen. „Wenn das Doha-Abkommen aufgekündigt wird, wird dies zu einem großen Krieg führen, dessen Verantwortung voll und ganz auf den Schultern Amerikas liegen wird“, so ihre im Netz verbreitete Drohung.

    Was treibt die Taliban zu derart aggressiver Rhetorik?

    Was treibt die Rebellen zu solch schrillen Tönen? Es dürften die jüngsten, klaren Signale aus Washington sein. Der Sprecher des Pentagon, John Kirby, wurde deutlich: „Die Taliban erfüllen nicht ihre Verpflichtung, Gewalt zu reduzieren und ihre Verbindungen zu Al-Kaida einzustellen.“ Die Angesprochenen dürften diese Aussage als Absetzbewegung von dem im Februar 2020 unterzeichneten Abkommen zwischen den USA und den Taliban verstanden haben. Das Vertragswerk sieht den schrittweisen Abzug aller offiziellen und inoffiziellen US-Truppen – also auch CIA-Angehörige und Söldner – bis zum 1. Mai 2021 vor. Die islamistischen Milizen verpflichteten sich hingegen, weder ausländische Soldaten noch größere Städte militärisch anzugreifen sowie die Duldung von anderen terroristischen Gruppen wie Al-Kaida am Hindukusch zu beenden.

    Thomas Ruttig, Co-Direktor des „Afghanistan Analyst Network“, sieht die USA in einem gewissen Dilemma: „Biden weiß, dass der Krieg in den USA unpopulär ist. Andererseits will er nicht für einen Zusammenbruch der Regierung in Kabul verantwortlich sein.“ Er gehe davon aus, dass die USA nun versuchen werde, mit den Taliban darüber hinter den Kulissen noch einmal zu verhandeln, sagt Ruttig, der jahrelang als Mitarbeiter an der UN-Mission in Afghanistan beteiligt war. Ruttig glaubt auch nicht, dass es tatsächlich um Verbindungen der Taliban zu Al-Kaida geht. „Warum sollten sie ihre Rückkehr an die Macht für diese internationalen Terrorgruppen aufs Spiel setzen? Durch den Al-Kaida-Anschlag in den USA vom 11. September 2001 haben sie schon einmal die Macht verloren.“ Zudem gebe es nur noch wenige Al-Kaida-Kämpfer im Land.

    Schleppende Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban

    Die ebenfalls im Februar-Abkommen festgeschriebenen Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban, die eine Beendigung des Bürgerkrieges vorbereiten sollen, verlaufen äußerst schleppend. Immerhin haben sich die Delegationen in Doha überraschend darauf geeinigt, einen Mediator aus Katar zuzulassen. Doch darüber, wie eine Zukunft des Landes aussehen könnte, gehen die Meinungen weit auseinander. Für Ruttig ist das keine Überraschung: „Es gibt großes Misstrauen, es wird auf beiden Seiten getrickst, es geht um die Macht.“

    Der Krieg zerstört Lebensläufe. Ein afghanischer Junge, sitzt vor seinem Haus am Rande der Stadt östlich von Kabul.
    Der Krieg zerstört Lebensläufe. Ein afghanischer Junge, sitzt vor seinem Haus am Rande der Stadt östlich von Kabul. Foto: Rahmat Gul, AP, dpa

    Im Gegensatz zu den Verhandlungen macht der Krieg keine Pause. „Die Taliban halten sich an ihre Verpflichtung aus dem Abkommen, keine ausländischen Truppen und keine größeren Städte anzugreifen. Doch in vielen ländlichen Regionen sind sie auf dem Vormarsch, um Tatsachen zu schaffen, falls die Verhandlungen zusammenbrechen“, sagt Ruttig. Gleichzeitig erschüttert eine Mordserie Kabul. Betroffen sind Journalisten – im Jahr 2020 gab es elf Opfer –, aber auch demokratische Aktivisten, eine Frauenrechtlerin und Politiker. Sofort kam der Verdacht auf, dass die Mordanschläge auf das Konto der Rebellen gehen. „Einige afghanische Beobachter glauben, dass nicht nur die Taliban verantwortlich sind, sondern auch die Regierung und kriminelle Banden, die zum Teil im Auftrag von Politikern handeln“, sagt Ruttig, der enge Kontakte in das Land unterhält. Die grausame Serie hat bei vielen Afghanis die Furcht davor verstärkt, was passiert, wenn die Taliban eines Tages tatsächlich an der Macht beteiligt sind oder sie gleich ganz an sich reißen. Ihre erste Herrschaft endete 2001 nach dem Eingreifen einer westlichen Militärallianz. Sie war geprägt durch Fundamentalismus und Terror.

    Dass sich die Regierung in Kabul ohne die Präsenz der US-Truppen und finanzielle Unterstützung aus dem Ausland nicht an der Macht halten könnte, gilt als sicher. „Dann wird es einen Völkermord geben, und sie werden dafür verantwortlich sein“, so der dramatische Hilferuf des bekannten afghanischen Journalisten Bilal Sarwari. Thomas Ruttig glaubt, dass die Taliban aus ihrer Niederlage von 2001 Konsequenzen gezogen haben: „Sie haben gelernt, dass sie nicht gegen die Bevölkerung regieren können. Das bedeutet nicht, dass sie demokratisch sind oder die Frauenrechte respektieren. Aber sie sind pragmatischer geworden.“ Nur Druck kann sie dazu bringen, sich zu ändern. Druck, der „aus der afghanischen Bevölkerung, aber auch von den ausländischen Geldgebern“ kommen müsse. Denn auch eine Regierung unter Beteiligung der Taliban werde finanzielle Hilfe von außen benötigen.

    Die Bundeswehr kann ohne US-Truppen nicht in Afghanistan bleiben

    Mit Spannung dürfte auch die Bundesregierung auf die nächsten Schritte der US-Regierung warten. Klar ist: Gehen die Amerikaner, müssen auch die rund 1200 Bundeswehrsoldaten Afghanistan verlassen. Ohne die militärische und logistische Unterstützung der Amerikaner wäre das Risiko für das deutsche Kontingent und die übrigen Nato-Partner unkalkulierbar.

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