Die Meldung hatte es in sich: Russland hat die USA zur Rettung des letzten großen bilateralen atomaren Abrüstungsvertrags aufgerufen. Doch trotz der offensichtlichen Brisanz der Angelegenheit, blieben die Reaktionen verhalten. Wie bereits am Freitag, als der russische Außenminister Sergej Lawrow seinen US-Kollegen Mike Pompeo am Telefon dazu gedrängt hatte, über eine Verlängerung des New-Start-Vertrags zur Begrenzung strategischer Atomwaffen zu verhandeln. Die Zeit wird knapp, denn in neun Monaten, im Februar 2021, läuft der Vertrag aus.
Fast unbemerkt brechen die Pfeiler der nuklearen Abrüstung ein
Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit brechen die Pfeiler der Konstruktion zusammen, die über Jahrzehnte für partielle nukleare Abrüstung gesorgt und Aufrüstung gebremst haben. Im August 2019 wurde der Washingtoner Vertrag über Mittelstreckensysteme von 1987, kurz INF-Vertrag, zwischen den USA und Russland nach wechselseitigen Vorwürfen außer Kraft gesetzt. Jetzt droht der letzte Schlag – beim New-Start-Vertrag geht es um Interkontinentalraketen, die landgestützt, von U-Booten aus oder mit schweren Bombern ins Ziel gebracht werden könnten.
Aufrüstung, atomare Bedrohung – Themen die Ende der 70er Jahre Millionen Deutsche auf die Straße trieben. Der Streit um den Nato-Doppelbeschluss zur Nachrüstung ging durch alle Gesellschaftsschichten, spaltete Familien und belastete Freundschaften. Und heute? „Es droht der sicherheitspolitische Untergang, und kaum jemand interessiert sich dafür. Viele blenden die Bedrohung einfach aus“, sagt der deutsche Militärexperte Christian Mölling im Gespräch mit unserer Redaktion und klingt dabei so, als könne er das weitverbreitete Desinteresse kaum fassen.
Das Prinzip der Abschreckung würde in Frage gestellt werden
Auch Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik hält die Situation für alarmierend: „Ein Scheitern würde das Ende der nuklearen Rüstungskontrolle bedeuten. Es würden sowohl die rechtsverbindlichen Begrenzungen strategischer Kernwaffen als auch die gut funktionierenden wechselseitigen Inspektionen der Bestände wegfallen. Die wahrscheinlichen Folgen wären ein neues quantitatives und qualitatives Wettrüsten und das Ende der strategischen Stabilität“, sagte der Oberst a.D. unserer Redaktion. Richter sieht das Prinzip der Abschreckung, wonach die USA und Russland die Fähigkeit aufrecht erhalten, „auf einen Erstschlag mit einem ebenfalls vernichtenden Zweitschlag reagieren“ zu können, in Gefahr. Also das so zynische, wie in der Vergangenheit effektive Sicherheitskonzept: „Wer als Erster schießt, der stirbt als Zweiter.“
Der frühere US-Präsident Barack Obama und sein damaliger russischer Amtskollege Dmitri Medwedew signierten den New-Start-Vertrag 2010 feierlich in Prag. Das Dokument wurde als weitreichendste Übereinkunft der weltweit unangefochtenen Atommächte seit den 90er Jahren gefeiert.
Der Militärexperte Christian Mölling hofft auf Verhandlungen
Ist das Abkommen noch zu retten? Mölling, der als stellvertretender Vorsitzender des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) tätig ist, hält es für denkbar, dass US-Präsident Donald Trump Verhandlungen zustimmt, schließlich gebe er ja gerne den Macher. „Allerdings wird er dies alles bereits mit Blick auf den US-Wahlkampf angehen. Das und die Sprunghaftigkeit des Präsidenten dürfte eine Einigung nicht eben erleichtern.“
Die Hürden für eine Rettung des Vertrages sind ohnehin hoch. Das liegt einmal an der Forderung von Donald Trump, auch die Atommacht China an den Gesprächen zu beteiligen. Weder Mölling noch Richter halten dies für realistisch. „Dafür ist das Gefälle viel zu groß: Während die USA und Russland jeweils über einen aktiven Bestand von circa 3800 und einen Gesamtbestand von je über 6300 Atomsprengköpfen verfügen, sind es in China rund 300“, sagt Richter.
Die Frage ist, ob die Hardliner in Washington die Oberhand gewinnen
Zudem ist Richter überzeugt, dass eine einfache Verlängerung des Start-Vertrages nicht infrage komme, dafür habe sich in der nuklearen Rüstungstechnik zu viel verändert. Die von Russland vorgeschlagene Verlängerung des Vertrages um fünf Jahre könne aber eine Chance sein, einen Folgevertrag zu verhandeln, in dem dann auch neu entwickelte Waffensysteme berücksichtigt werden würden. Dann müsste man aber sehr bald mit den Gesprächen über die künftige strategische Stabilität beginnen.
Die Frage ist, wie Washington auf die Offerte Moskaus reagiert. In den USA ist politisch umstritten, ob Rüstungsabkommen per se sinnvoll sind. „Hardliner in Washington glauben, dass die technische und ökonomische Überlegenheit der USA so groß ist, dass man Russland niederrüsten könne. Das halte ich für ein gefährliches Spiel. Europa sollte versuchen, auf Washington Einfluss zu nehmen, solche Pläne nicht zu verfolgen“, sagt Wolfgang Richter.
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