Woran soll man sich klammern nach so einem Ereignis? Nachdem sich die Angst wie ein Teppich über die 1,5-Millionen-Menschen-Metropole gelegt hat. Vielleicht daran, dass dieses gnadenlos überteuerte, deshalb mitunter gnadenlose München doch eine Weltstadt mit Herz sein kann, was gut vier Jahrzehnte lang die offizielle Werbebotschaft war. Festzumachen an hunderten Einwohnern, die noch in der Nacht ihre Wohnungen als Zufluchtsort für verängstigte Passanten anboten. An Hotels, die Zimmer kostenlos zur Verfügung stellten, in Konferenzräumen Bettenlager errichteten. An Kirchen und Kaufhäusern, die eigens aufsperrten, Staatskanzlei, Ministerien, selbst das Polizeipräsidium nahm Menschen auf. Weil die Panik eine unglaubliche Dynamik entfaltet hatte. Wenn schon diese fürchterliche Nacht nicht rückgängig zu machen war, dann sollte man wenigstens zusammenhalten. Vielleicht bleibt das. Ein klein wenig zumindest.
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Aber woran soll sich Naim Zabergja klammern? Mit einem Strauß Rosen steht er auf der Rückseite des Olympia-Einkaufszentrums (OEZ) im Nordwesten der Stadt. In der anderen Hand: ein Foto. Der 20-Jährige darauf lächelt offen und freundlich in die Kamera, die Haare sind sorgfältig frisiert. „Das war mein Sohn“, sagt Zabergja und hält das Bild in die Kamera. Nun ist der junge Mann tot, wie acht andere Opfer, die der 18-jährige Amokläufer David Ali S. am Freitagabend erschossen hat, bevor er sich selbst tötete.
Ein fast normaler Sommertag in München
Die Sonne brennt am Sonntagnachmittag hinunter auf die schwarze Abtrennwand, mit der Polizisten den Eingangsbereich des McDonald’s gegenüber dem OEZ abgeschirmt haben. Eine Menschentraube hat sich vor dem Schnellrestaurant im Stadtteil Moosach versammelt, wo David S. das Feuer eröffnete. Betreten betrachtet sie das Blumenmeer. Jugendliche stehen in Grüppchen beieinander. Am Straßenrand parken Übertragungswagen mit Kennzeichen aus Frankreich, Polen, Italien, der Schweiz. Ein Schaulustiger macht ein Selfie.
Auf einem in jugendlicher Handschrift geschriebenen Zettel verabschiedet sich ein Mädchen von seiner Freundin. Eine Mutter zündet mit ihrem Sohn eine Kerze an. In den Cafés und Restaurants am Rande des Einkaufszentrums trinken Menschen schon wieder Kaffee. Im nahen Olympiapark liegen die Sonnenanbeter auf ihren Handtüchern im Gras. Jogger schnaufen über den Asphalt, Familien nutzen den Sonntag für einen Ausflug.
Ein fast schon wieder normaler Sommertag in München.
Die Gegend rund um das OEZ ist beliebt bei jungen Leuten
Der Amoklauf hat sich in einem einfacheren Stadtviertel mit großen Wohnblocks und viel Gewerbe ereignet. Die Gegend rund um das OEZ mit Restaurants und Geschäften ist ein beliebter Treffpunkt, vor allem bei jungen Leuten. Auch Zabergjas Sohn war dort mit einem Freund verabredet. An diesem schwülwarmen Abend saßen sie draußen, sie wollten eine Limo trinken. Dann kam der Amokschütze. „Der Freund ist weggelaufen, meinen Sohn hat er getötet“, erzählt der Vater, der aus dem Kosovo stammt.
Seine Stimme wird heiser, aber Naim Zabergja redet weiter. Zwei Töchter hat er noch und vier Enkel. Dijamant war der einzige Sohn, geboren in München. Er machte eine Ausbildung am Flughafen. Dass er tot ist – für den Vater ist das nicht zu begreifen. Am Samstagmorgen gegen vier Uhr stand die Polizei vor der Tür und hat ihm die Nachricht überbracht. „Ich bin noch in Träumen, ich glaube noch nicht, was passiert ist, auch meine Familie nicht.“
Amokläufe in Deutschland
Saarbrücken: 25. Mai 1871. Als Erstes der sogenannten School Shootings gilt der Fall des Julius Becker. Er schoss auf zwei Mitschüler am Gymnasium in Saarbrücken. Zwei Wochen vor der Tat hatte er die Waffe gekauft. Nach der ersten Stunde schoss er ohne Vorwarnung dreimal auf den Kopf eines Mitschülers, traf außerdem einen zweiten Klassenkameraden.
Haiger bei Dillenburg: 1924. Fritz Angerstein tötete zunächst seine Familie und Angestellte seines Hauses, verstümmelte sich im Anschluss selbst und brannte danach seine Villa nieder. Angerstein gab gegenüber der Polizei an, dass er in seiner Villa überfallen worden sei. Das stellte sich als gelogen heraus. Angerstein wurde zum Tode verurteilt und am Morgen des 17. Novembers 1925 hingerichtet.
Amtsgericht Euskirchen: 9. März 1994. Der 39-jährige Erwin Mikolajczyk schoss in einem Gerichtssaal des Amtsgerichts Euskirchen um sich. Er reagierte damit darauf, dass sein Einspruch gegen eine Geldstrafe wegen Körperverletzung in Höhe von 7200 DM vom Gericht abgewiesen wurde. Anschließend zündete er eine Bombe. Sieben Menschen starben, acht weitere wurden teilweise schwer verletzt.
Eching/Freising: 19. Februar 2002. Adam Labus kleidete sich in militärischer Tarnkleidung und fuhr mit dem Taxi zu der Dekorationsfirma, die ihm kurz vorher gekündigt hatte. Dort tötete er den 38-jährigen Betriebsleiter und einen 40-jährigen Vorarbeiter. Danach fuhr er mit demselben Taxi in seine Wirtschaftsschule in Freising. Er tötete den Schulleiter und verletzte einen Religionslehrer schwer. Schließlich tötete er sich selbst.
Erfurt: 26. April 2002. Robert Steinhäuser erschoss am Vormittag des 26. April 2002 am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizisten. Anschließend tötete er sich selbst. Er war zum Tatzeitpunkt 19 Jahre alt.
Emdstetten: 20. November 2006: Bastian B. verletzte in seiner ehemaligen Schule drei Jugendliche durch Schüsse. Der Hausmeister wird durch einen Bauchschuss schwer verletzt. Eine ihm folgende schwangere Lehrerin wurde von einem Rauchkörper getroffen und erlitt Gesichtsverletzungen. Der Täter verletzte drei weitere Schüler und zündete Nebelkerzen, die den Einsatz der Polizei erheblich erschwerten. Der Täter tötete sich schließlich durch einen Schuss in den Mund selbst.
Winnenden: 11. März 2009. Am Vormittag des 11. März 2009 tötete Tim Kretschmer 15 Menschen - und anschließend sich selbst. Er wütete in seiner Realschule und in ihrer Umgebung in Winnenden, außerdem in Wendlingen am Neckar. Der 17-jährige Tim Kretschmer konnte erst nach mehrstündiger Flucht von der Polizei gestellt werden. Elf weitere Menschen wurden teils schwer verletzt.
Ansbach: 17. Septembers 2009. Schüler Georg R. wütete mit einem Beil, zwei Messern und drei Molotowcocktails am Gymnasium Carolinum in Ansbach. Er schleuderte einen Brandsatz in zwei Klassenzimmer. Als die Schüler flohen, schlug der Täter mit dem Beil wahllos auf sie ein. Zwei Schülerinnen wurden schwer, sieben Schüler sowie eine Lehrerin leicht verletzt.
Lörrach: September 2010. In der südbadischen Stadt Lörrach erschoss eine Anwältin und Sportschützin ihren von ihr getrennt lebenden Mann in ihrer Wohnung, erstickte den gemeinsamen Sohn und legte anschließend Feuer. Danach lief sie in ein gegenüberliegendes Krankenhaus und erschoss einen Pfleger. Die Polizei tötet schließlich die 41-Jährige.
Heidelberg: August 2013. Drei Tote und fünf Verletzte forderte ein Streit bei einer Eigentümerversammlung in Dossenheim nahe Heidelberg. Nach einer Auseinandersetzung über die Nebenkostenabrechnung wurde der Mann des Raumes verwiesen. Er kam mit einer Pistole zurück und lief Amok. Der Sportschütze tötete dabei zwei Männer und verletzte fünf Menschen schwer. Dann erschoss er sich selbst.
Düsseldorf: Februar 2014. Ein bewaffneter Mann lief im Raum Düsseldorf in zwei Anwaltskanzleien Amok. Er tötete drei Menschen und legte in beiden Kanzleien Feuer. Die Ermittler sind sich sicher, dass der 48-jährige Familienvater sich an seiner Ex-Chefin sowie an den Kanzleien in Düsseldorf und Erkrath rächen wollte. Der Amokläufer wurde schließlich am 23. September 2014 zu lebenslanger Haft verurteilt.
Ansbach: 10. Juli 2014: Ein Autofahrer erschoss bei seinem Amoklauf zwei Menschen, eine alte Frau und einen Radfahrer. Aus einem Auto heraus bedrohte der Schütze weitere Menschen und flüchtete. Die Polizei warnte vor dem Bewaffneten, es folgte eine Verfolgungsjagd. Kurz darauf Aufatmen: Der Mann wurde an einer Tankstelle gefasst. Außerdem sollen ein Landwirt und ein weiterer Autofahrer beschossen oder zumindest bedroht worden sein.
München: 22. Juli 2016: Ein 18-jähriger Deutsch-Iraner schießt am Münchner Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) um sich. Er tötet neun Menschen, 27 weitere werden verletzt. Danach tötet sich der Schütze selbst. 2300 Sicherheitskräfte waren in München im Einsatz. (Stand 23.7.2016, 14.50 Uhr)
Fast alle Toten waren sehr jung. Neben Dijamant eine 14-jährige Deutsche, eine 14-jährige Staatenlose, ein 14-jähriger Deutschtürke, ein 15-jähriger Ungar, ein 15-jähriger Deutschtürke, ein 17-jähriger Grieche, ein 19-jähriger Deutscher. Außerdem starb eine 45-jährige Türkin. Hinter den Gaben und Briefen, die hier abgelegt werden, stecken unzählige Geschichten, die zu Herzen gehen. Da ist dieser Bilderrahmen: Fröhliche Fotos zeigen Freunde Arm in Arm mit der Deutschlandfahne beim Fußballschauen. In der Mitte das Wort „Memories“. Oder Mini-Boxhandschuhe vor albanischer Flagge. Zwei Elfjährige trauern um drei Freunde. „Er war wie ein Bruder“, sagt einer der beiden über einen Toten, den er besonders gern hatte.
"Meine Schwester Armela war heute im OEZ"
Und da ist die Geschichte eines Fußballspielers vom FC Pipinsried im Kreis Dachau. Eigentlich soll er am Samstag mit seinem Bayernliga-Team beim TSV Kottern in Kempten antreten. Doch am Abend zuvor, um 23.07 Uhr, war auf seiner Facebook-Seite folgender Hilferuf zu lesen: „Hey Leute. Meine Schwester Armela war heute im OEZ. Seit dem Amoklauf haben wir nichts von ihr gehört. Wir wissen nur, dass sie sich bis jetzt in keinem Krankenhaus/Kinderklinik befindet. Sie ist 14 Jahre alt und 1,50 m groß. Sie hat braune lange Haare und hatte ein braunes Hemd und eine Jeans an. Wenn ihr irgendwelche Informationen habt oder helfen könnt, bitte ich euch, uns zu helfen.“
Samstagfrüh, 8.01 Uhr: ein neuer Eintrag auf Facebook. Der Spieler schreibt: „Armela – Unsere geliebte Tochter, Schwester, Freundin und in erster Linie ein geliebter Mensch ist heute durch den Amoklauf in München ums Leben gekommen. Wir lieben dich Engel.“ Das Spiel von Pipinsried in Kempten wird abgesagt.
Am Freitagabend war sie plötzlich da, die Angst, mit einem Schlag. Die Unsicherheit über die Lage im OEZ, die Panik, genährt durch Spekulationen und Gerüchte. Die bange Frage: Ist der Terror jetzt auch hier angekommen, in der Großstadt, die sich stets als sicherste Deutschlands fühlen durfte? Innerhalb von vier Stunden gingen bei der Polizei 4310 Notrufe ein. Kilometerweit entfernt vom Tatort kam es an mehreren Orten in der Innenstadt zu tumultartigen Szenen, am Isartor etwa und am Stachus, mit mehreren Verletzten. „Es gab eine Vielzahl von Meldungen aus dem gesamten Stadtgebiet über weitere Schusswechsel“, sagt Innenminister Joachim Herrmann. Alle waren falsch.
Es gibt viel Redebedarf am Samstagmorgen
Eine Panik, wie es sie in einer solchen Ausprägung noch nie gegeben hat? „Der Eindruck täuscht“, sagt Christian Lüdke am Telefon. Der Psychotherapeut aus Essen, Autor des Buchs „Wenn die Seele brennt“, ist spezialisiert auf die Betreuung von Gewalt- und Kriminalitätsopfern. Natürlich habe die zeitliche Nähe des Amoklaufs zu den Terrorattacken von Nizza und Würzburg eine Rolle gespielt, sagt er. Allerdings: „Wenn wir von mehreren Toten bei einer Gewalttat hören, reagieren wir grundsätzlich heftiger, als wenn es nur ein Todesopfer gibt.“ Es gehöre zu den Grundformen menschlichen Handelns, dass dann ein automatisiertes Schutzprogramm in Kraft tritt, eine genetische Reaktion, die lautet: fliehe, kämpfe oder erstarre. „Hinzu kommt der klassische Stille-Post-Effekt durch die sozialen Medien“, so der Experte – was dann gefährlich wird, wenn viel Halbwissen oder gar falsche Informationen verbreitet werden.
Es gibt viel Redebedarf am Samstagmorgen, als die Polizei vorsichtige Entwarnung gegeben hat und sich herausstellt, dass es sich um einen einzelnen Täter handelt. Die Münchner versuchen, für sich die Lage einzuordnen. Sie tauschen sich aus über ihre Erlebnisse, beim Bäcker, auf der Straße. Die Innenstadt ist gut besucht. Trotzdem ist etwas anders; das übliche Grundgemurmel ist leiser, weniger ausgelassen. „Es war schon eine ziemlich gruselige Situation am Freitag“, sagt Niek. Der Niederländer absolviert gerade ein Praktikum in der Stadt, drei Freunde besuchen ihn übers Wochenende. Vom Univiertel aus beobachteten die jungen Männer, wie schwer bewaffnete Polizisten mit Sirenen und hohem Tempo in Richtung Innenstadt fuhren. Als am Samstag endlich Klarheit herrscht, sind sie erleichtert. Einen Grund, sich jetzt anders zu verhalten, sehen sie nicht. „Heute ist alles wieder normal“, sagt Niek.
"Ich fühle mich absolut sicher"
Amokläufe - oft sind es Taten wie im Rausch
Das Wort «Amok» kommt aus der malaiischen Sprache und bedeutet Wut.
Laut Statistik sind die meisten Amokläufer männlich.
Nach Erkenntnissen von Polizeipsychologen lebten sie vor der Tat oft eher unauffällig, zeigten ihre Gefühle kaum und neigten zu Selbstüberschätzung.
Neben psychisch schon länger kranken Tätern gibt es auch Amokläufer, die aus banalen Gründen plötzlich «ausrasten».
Angst, Demütigung, Eifersucht oder Scham haben sich oft lange aufgestaut, bevor es im Amoklauf zur Katastrophe kommt.
Viele Amokläufer töten sich am Ende selbst, weshalb solche Anschläge mitunter auch als «erweiterter Selbstmord» angesehen werden.
Als Tatort wird häufig eine Örtlichkeit gewählt, die der Täter mit der Verletzung seiner Psyche in Verbindung bringt. Beispiele sind Amokläufe in Gerichts- oder Schulgebäuden.
Auch Geraldine Brunner sagt: „Ich fühle mich absolut sicher. Es ist schön zu sehen, wie die Menschen in München zusammenhalten.“ Sie ist am Sonntag mit dem Syrischen Friedenschor zum OEZ gekommen. Dieser besteht aus jungen Flüchtlingen, die mit ihrer Musik ein Zeichen setzen wollen. An diesem Tag haben sie spontan einen Auftritt in ihrer Heimatstadt organisiert, sagt Gründer Ahmad Abbas. „Es war uns sehr wichtig, heute hier zu sein“, sagt er. „Wir wollen ein Zeichen setzen für ein friedliches Miteinander.“
Das wollen viele: Am Sonntag versammeln sich Hunderte zu Gedenkveranstaltungen für die Opfer und ihre Angehörigen. In den sozialen Netzwerken danken sich Bürger und Polizei gegenseitig für ihr besonnenes und professionelles Verhalten und ihre Solidarität. Haben es Opfer von Amokläufen besonders schwer, ihr Trauma zu verarbeiten? „Das ist nicht anders als bei anderen Gewalttaten“, sagt Psychotherapeut Lüdke. „Die Sinnlosigkeit der Tat vereint alle diese Fälle.“
Die Menschen werden noch lange damit zu kämpfen haben. In dieser Weltstadt mit Schmerz. mit dpa
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