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Suchtforscher im Interview: Alkohol im politischen Geschäft: „In Berlin wird heftig getrunken“

Suchtforscher im Interview

Alkohol im politischen Geschäft: „In Berlin wird heftig getrunken“

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    Gern treffen sich Politiker in einer Berliner Kneipe. In der Berufsgruppe ist riskanter Alkoholgenuss dem Suchtforscher Karl Mann zufolge weit verbreitet. Gesprochen wird darüber nicht. Mann erklärt: Da Politiker kaum ein Privatleben haben, sind sie auf Dauer besonders suchtgefährdet.
    Gern treffen sich Politiker in einer Berliner Kneipe. In der Berufsgruppe ist riskanter Alkoholgenuss dem Suchtforscher Karl Mann zufolge weit verbreitet. Gesprochen wird darüber nicht. Mann erklärt: Da Politiker kaum ein Privatleben haben, sind sie auf Dauer besonders suchtgefährdet. Foto: dpa

    Die Pressemitteilung vom 7. Juli 2011 ist ganze neun Sätze lang. Satz vier ist der entscheidende: „Mir ist bewusst, dass ich alkoholkrank bin.“ Fünf Tage zuvor hat der Bundestagsabgeordnete Andreas Schockenhoff  offenbar stark alkoholisiert mit seinem Auto ein anderes gerammt und ist davongefahren. Nach seinem Eingeständnis ließ er sich behandeln.

    Am Sonntagabend trat er wieder auf – bei „Günther Jauch“. Zum Thema: „Die Trinker-Republik – Unterschätzen wir die Volksdroge Alkohol?“ Ein Gespräch mit dem Suchtforscher Karl Mann über Politik und Alkohol. Mann ist stellvertretender Direktor am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

    Andreas Schockenhoff, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, hat sich jetzt auch in der Talkshow „Günther Jauch“ vor einem Millionenpublikum zu seiner Alkoholsucht bekannt. Was halten Sie davon?

    Mann: Dazu gehört eine Menge Mut. Ich habe Hochachtung vor Schockenhoff. Es ist heute leichter zu sagen, man sei HIV-infiziert oder habe Aids, als über seine Alkoholsucht zu sprechen. In den vergangenen Jahren ist einiges passiert, um HIV und Aids zu entstigmatisieren. Bei Alkoholsucht ist man noch nicht so weit.

    Hat sich Schockenhoff mit seinem Auftritt einen Gefallen getan?

    Mann: Als Politiker ist er damit ein sehr großes Risiko eingegangen. Aber es ist ein wesentliches therapeutisches Ziel, sich selbst, seiner Familie oder Kollegen seine Alkoholsucht einzugestehen. Wenn das gelingt, ist der Erfolg größer, trocken zu werden und zu bleiben, als sich in einer Klinik behandeln zu lassen – und anderen zu sagen, man müsse sich wegen Magenproblemen behandeln lassen.

    Schockenhoff wird nun hauptsächlich als Alkoholsüchtiger wahrgenommen und nicht mehr als Politiker.

    Mann: Das wird auch wieder abebben. Und vielleicht hilft es ihm: Er wird jetzt stark beobachtet. Das ist wie eine Versicherung, die ihn vor einem Rückfall bewahren kann.

    Schockenhoffs Eingeständnis war also ein Tabubruch?

    Mann: Alkoholsucht wird immer noch nicht als eine Krankheit wie etwa Diabetes angesehen. Es gibt die Vorstellung, es genüge, ein ordentliches Leben zu führen oder einen starken Willen zu haben, um mit Alkohol fertig zu werden. Nach wie vor haben viele Leute das Bild eines Obdachlosen, der seinen Fusel unter einer Brücke trinkt, vor Augen, wenn sie an einen Alkoholiker denken. Dabei gibt es Alkoholiker auch unter Ärzten, Journalisten, Juristen, Managern oder Künstlern.

    Und eben unter Politikern. Sind diese besonders gefährdet?

    Mann: Der Dauerstress, unter dem Politiker stehen, kann als Auslöser durchaus eine Rolle spielen. Politiker wie Schockenhoff führen zwei Leben – eines in Berlin und eines in ihrem Wahlkreis. Sie haben kaum ein Privatleben. Und das ist eine besondere Gefährdung auf Dauer.

    Edmund Stoiber: Kamillentee im Maßkrug

    Bei jedem Termin, den ein Politiker wahrnimmt, gibt es Alkohol.

    Mann: Das ist sicher weniger geworden in den vergangenen Jahren. Aber denken Sie an den früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. Der hat sich Kamillentee in den Maßkrug geschüttet. Das war die große Ausnahme damals. Das Beispiel Stoiber zeigt, wie stark der Druck auf Politiker war, in der Öffentlichkeit zu trinken. Oder denken Sie ans Oktoberfest, wo der Bieranstich regelrecht zelebriert wird.

    Wäre es für einen Politiker bei solchen Terminen nicht möglich, sich seinen Maßkrug mit Bier befüllen zu lassen – aber dann nicht daraus zu trinken?

    Mann: Wenn man als Alkoholkranker so tut, als ob man trinken würde, ist man nahe an einem Rückfall.

    Schockenhoff sagte, eine „Alkoholkrankheit ist nicht die Staublunge der Politiker“. Hat er damit recht?

    Mann: Der Politikbetrieb spielt eine große Rolle, wenn es um Alkoholsucht geht. Im politischen Berlin wird ziemlich heftig getrunken, wir haben dafür die Bezeichnung „schädlicher Gebrauch“. Der ist in der Berufsgruppe der Politiker weitverbreitet. Und er fällt in diesem Umfeld auch nicht so auf.

    Dennoch trinkt ein alkoholsüchtiger Politiker ja mehr als das, was er in der Öffentlichkeit trinkt.

    Mann: Ganz starkes Trinken kann man ja auf die Zeit nach einem Termin verschieben. Denn die Mengen, die vielleicht von Fraktionskollegen konsumiert werden, genügen einem alkoholsüchtigen Politiker nicht. Für ein paar Stunden kommt er aber damit aus.

    Hätte Schockenhoff an einem gewissen Zeitpunkt nein zu Alkohol sagen müssen?

    Mann: Neinsagen muss man üben. Er hätte sich fragen können: Gelingt es mir, wenigstens an zwei Tagen in der Woche nicht zu trinken? Wenn einem das nicht gelingt, befindet man sich schnell auf der abschüssigen Bahn.

    Die Grenzen von schädlichem Gebrauch und Alkoholsucht sind fließend?

    Mann: Es gibt sechs Kriterien, wenn drei von ihnen erfüllt sind, ist man süchtig. Ein Kriterium ist das der Toleranzsteigerung über Jahre hinweg. Man trinkt also mehr, um betrunken werden zu können. Ein weiteres Kriterium sind Entzugserscheinungen oder die Minderung der Kontrolle über seinen Alkoholkonsum. 50 bis 60 Prozent der Wahrscheinlichkeit abhängig zu werden, wird übrigens von den Genen bestimmt. Ein Stück weit ist Alkoholsucht demnach Schicksal.

    Schockenhoff sagte: „Ich habe mir eingebildet: ‘Ich hab’s unter Kontrolle.’ “

    Mann: Schockenhoff gehört zu den 80 Prozent der Alkoholsüchtigen, die auch einmal einen Tag mit dem Trinken aussetzen. Die Gruppe der Quartalssäufer, die vielleicht nur am Wochenende trinkt, ist verschwindend klein.

    Der Journalist Peter Richter sagte in der Sendung „Günther Jauch“: „Der Alkohol ist die einzige legale Droge, die uns noch geblieben ist.“ Und er plädierte: „Rettet den Rausch!“

    Mann: So eine Aussage muss man wohl hinnehmen, auch wenn ich sie für falsch halte. Unser Umgang mit Alkohol ist von einem laissez faire geprägt. Ganz anders übrigens in den USA. Dort gehört Alkohol nicht zum täglichen Leben dazu, auch nicht zum täglichen Leben eines Politikers.

    Interview: Daniel Wirsching

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