Eine grauhaarige Frau mit Kurzhaarschnitt ist die Erste, die am Eingang zum Lokal wartet. Sie nutzt die Zeit, um eine Zigarette zu rauchen. Erika heißt sie. Der Vorname muss genügen. So ist es abgemacht. Kein Nachname, kein Foto.
Nach und nach kommen die anderen dazu, umarmen sich zur Begrüßung, plaudern noch ein wenig, bis alle da sind – Männer und Frauen im Alter zwischen Mitte 20 und ungefähr 60. Sie sind zum Kegeln verabredet. Einmal in der Woche kommen sie zusammen, um gemeinsam etwas zu unternehmen – Schwimmen, Grillen, ins Kino oder zum Essen gehen oder eben Kegeln.
Was sie sonst noch verbindet, ist normalerweise kein Thema an solchen Abenden. Und Außenstehende geht es überhaupt nichts an.
Beschimpfungen an der Tür
Die Bitte an die Reporterin, die Anonymität zu wahren, hat ihren Grund. Einer aus dem Freundeskreis hat sich einmal dazu hinreißen lassen, bei einer Veranstaltung auf einer Bühne zu sagen, dass er HIV-positiv ist. Als er nach Hause kam, war seine Tür besprüht. „Schwule Sau“, stand dort.
„Es sind meistens Leute aus bildungsfernen Schichten, die ihren irrationalen Ängsten auf solche Weise Luft machen“, sagt Markus, der Leiter der Gruppe „Krea-k-tiv – kreative und aktive Freizeitgestaltung und Gesundheitsförderung“. Der 42-Jährige kennt viele üble Geschichten aus dem Alltag seiner Schicksalsgenossen. 30 Jahre, nachdem die Welt Aids kennenlernte, und rund zehn Jahre nach der Etablierung von Medikamenten, die den Schrecken der unheilbaren Krankheit erheblich verringern, sehen sich Betroffene noch immer mit Berührungsängsten, Ablehnung und Stigmatisierung konfrontiert.
Aus dem Mietshaus gemobbt
Ein Paar, das bis vor einiger Zeit in Königsbrunn bei Augsburg wohnte, entfloh dem Nachbarschaftsterror durch den Wegzug nach Stuttgart, erzählt Markus zwischen den Kegelrunden bei einem Glas Apfelschorle. Leere Medikamentenschachteln in der Papiermüll-Tonne hatten die Mitbewohner des Mietshauses darauf gebracht, dass da ein HIV-Betroffener mit ihnen unter einem Dach lebte. Das Paar wurde hinausgeekelt.
„Krea-k-tiv“ ist eine Art kleines Gegenmodell zur verbreiteten Ausgrenzung. In der Gruppe kommen HIV-Positive und HIV-Negative zusammen. Es ist ein Freundeskreis, der einfach nur Spaß haben will. Wer „positiv“ ist und wer nicht, sieht man nicht. Es spielt auch keine Rolle. „Genauso wenig wie bei vielen anderen chronischen Krankheiten“, sagt Ulrike Alban-El Bidani, die Leiterin des AWO-Zentrums für Aidsarbeit Schwaben (ZAS), unter dessen Dach sich die „Krea-k-tiv“- Gruppe gefunden hat.
Gespräche geben Sicherheit
Evelyn ist nur indirekt betroffen, das aber so sehr, dass es sie dauerhaft belastet. Die blond gelockte Frau Anfang 50 hat vor neun Jahren ihren aidskranken Sohn verloren. Er war schwul, was die Eltern akzeptierten. Aber mit anderen darüber offen zu sprechen sei nicht möglich. In diesem Kreis aber fühlt sich Evelyn sicher. „Das tut mir gut.“
Auch bei Markus, dem Gruppenleiter, wissen nur der Vater und sein Bruder von seiner HIV-Infektion. Die Mutter ist schon verstorben. Der Rest der Familie ist nicht informiert. „Es ist immer eine Gratwanderung zu entscheiden, ob man sich bekennt oder nicht. Wenn es einmal gesagt ist, kann man es nicht mehr zurückholen.“
Als er vor Jahren sehr krank war („Vollbild Aids“), erfuhren seine Kollegen in einer großen Firma nur, dass er Krebs habe. Er hatte auch Krebs, „den typischen Hautkrebs vom Mund bis zum Enddarm“, der infolge der Immunschwächekrankheit ausbrechen kann, erläutert Markus.
In seiner Abteilung sei man um ihn besorgt gewesen, Mitgefühl war zu spüren: „Wer Krebs hat, bekommt Mitleid, Hilfe und Unterstützung. Wer Aids hat und schwul ist, ist selber schuld“, sagt er nüchtern.
Die meisten wollen anonym bleiben
Markus ist trotzdem einer derjenigen, die sich normalerweise auch in der Öffentlichkeit zu erkennen geben, ebenso wie sein Partner Frank, mit dem er seit 17 Jahren zusammen ist. Die beiden gelernten Kaufleute sind seit ihrer Frühverrentung ehrenamtlich in der Präventionsarbeit aktiv. Aber mit Rücksicht auf alle anderen in der „Krea-k-tiv“-Gruppe wollen sie diesmal ihre Namen nicht in der Zeitung lesen.
Frank (53), ein kantiger Typ, an dessen Ohrläppchen ein kleines Schmuckstück blitzt, hat auch an diesem Nachmittag wieder Aufklärungsarbeit geleistet. Er hält im Auftrag des ZAS Vorträge in Schulen und für die Deutsche Aids-Hilfe Berlin bei Veranstaltungen in ganz Deutschland, warnt vor der Ansteckungsgefahr durch ungeschützten Geschlechtsverkehr und plädiert dafür, dass jeder sexuell aktive Mensch sich freiwillig regelmäßig testen lässt. „Dann kann man verantwortungsvoll handeln.“
Ansteckung im Berufsalltag unwahrscheinlich
Und er informiert Krankenpflegekräfte und Polizeibeamte darüber, dass eine Ansteckung in ihrem normalen Berufsalltag sehr unwahrscheinlich ist. Weder die Berührung mit Speichel noch mit Urin oder Kot im Krankenhaus berge eine Gefahr. Welche Hilfsmaßnahmen bei Blutkontakt über kleine Verletzungen zu ergreifen sind, ist ebenfalls ein Thema, bei dem er sich auskennt. „Ich will den Menschen die Angst nehmen und ihnen aufzeigen, dass sie mit den Menschen ganz normal umgehen sollen“, sagt Frank.
Dass mitunter selbst Mediziner zum Kreis der Uninformierten zählen und einem HIV-positiven Patienten sogar den Händedruck verweigern, zählt zu den besonders bitteren Erfahrungen Betroffener. Angelika (47), eine Kunstmalerin, die schon seit 1996 mit dem HI-Virus lebt, geriet an einen solchen Arzt mit offensichtlicher Berührungsangst. Er deprimierte sie auch noch mit abfälligen Kommentaren. „Wo haben Sie sich denn das geholt?“, habe er gefragt – „ in einem Ton, als ob er vermuten würde, dass ich auf den Strich gehe“, erzählt die Frau. „Ich war fix und fertig.“
Tiefes psychologisches Loch nach der Diagnose
Sie sei damals nach dem Studium in den USA in einem sehr labilen Zustand gewesen, als sie erfuhr, dass sie sich in einer langjährigen festen Beziehung zu einem Mann angesteckt hatte. Auch körperlich wurde sie dann schwer krank. Aus dem tiefen psychischen Loch holten sie die Betreuer der Aidshilfe und später des ZAS heraus, sagt sie voller Dankbarkeit.
Allmählich ging es wieder aufwärts. Nach einer ausgeheilten Tuberkuloseerkrankung und einer damals noch sehr belastenden Therapie schaffte sie eine weitere Prüfung und bekam sogar ein Stipendium für einen Italien-Aufenthalt. Jetzt stellt sie ihre Werke wieder aus, kann aber nach wie vor noch nicht den ganzen Tag arbeiten.
Beim Kegeln ist die fröhlich wirkende Frau die Schlechteste ihrer Mannschaft. „Ich hätte eigentlich einen Preis als Schlusslicht verdient“, fordert sie und lacht. Toni, der Sieger, erbarmt sich dann und teilt den gewonnenen Adventskalender bis zum letzten Schokoladenkrümel mit allen anderen.
Medikamente erlauben fast normales Leben
Dass sie alle so gut drauf sind, haben sie den Arzneimitteln zu verdanken, die ihnen heute ein fast normales Leben erlauben, „von einigen Nebenwirkungen wie zeitweiser Übelkeit, Müdigkeit, Verdauungsproblemen, Unkonzentriertheit und psychischen Belastungen abgesehen“, ergänzt Markus. Aber man könne heute, wenn man die Medikamente vertrage, unter ständiger Kontrolle durchaus ein normales Lebensalter erreichen.
Und man könne ein normales Sexualleben haben. In einer festen Beziehung allerdings leichter, als wenn man alleine ist. Der 28-jährige Uli, der aus Norddeutschland zugezogen ist, weiß, wie schwer es ist, einen Partner zu finden. Auch Angelika musste die Zurückweisung eines Mannes erfahren, in den sie verliebt war. Als er erfuhr, dass sie HIV-positiv ist, wollte er nichts mehr von ihr wissen.
Dabei sei es im Idealfall möglich, mit Medikamenten die Viruslast unter die Nachweisgrenze zu drücken – ein Fakt, der allerdings die Gefahr birgt, dass die jüngere Generation der HIV-Infizierten nachlässig wird, was den Schutz mit Kondomen angeht.
Lebenserwartung deutlich gestiegen
Ein „Altfall“ wie Frank ist sicher nicht in dieser Gefahr. Es hört sich zwar völlig undramatisch an, wenn er über seine HIV-Infektion sagt: „Ich bin seit 24 Jahren dabei.“ Aber dass einer so lange überlebt, wäre zu Beginn der achtziger Jahre noch undenkbar gewesen. 1995 wäre Frank tatsächlich beinahe gestorben. Der jetzt so durchtrainierte Mann mit den tiefen Furchen im Gesicht konnte damals nicht mehr laufen.
Eberhard, ein 50 Jahre alter Architekt aus dem Allgäu, konnte nicht mehr hören. Der ehrenamtliche Botschafter der Deutschen Aidsstiftung hatte sich eine Streptokokken-Infektion zugezogen, die eine Hirnhautentzündung auslöste. Und auch er machte schlechte Erfahrungen mit einem Ohrenarzt. Auf die Frage, ob eine Operation ihm die Hörfähigkeit wiedergeben könne, gab der ihm zu verstehen, dass sich das nicht lohne: „Was wollen Sie denn noch operieren?“, war die Antwort.
Eberhard wechselte den Arzt und ist wieder voll da – mit Implantat und Hörgerät. „Es ist ein Wunder, dass wir alle da sind. Ohne die neuen Medikamente wären wir wohl schon tot.“