Es dürfte fast ohne Beispiel sein, dass ein Hauptmann der Bundeswehr öffentlich derartig vernichtend über die deutsche Politik urteilt. Viele afghanische Ortskräfte würden in der "Todesfalle" sitzen und das sei ein "Ergebnis politischer Entscheidungen" sagte Marcus Grotian in einem Interview mit dem heute-journal des ZDF am Montagabend. Der Hauptmann, bei der Bundeswehr zuständig für das Patenschaftswerk für afghanische Ortskräfte, beklagte fehlende Unterstützung bei den Bemühungen, Menschen zu retten. Immer wieder habe man gegenüber Berlin Befürchtungen geäußert, Lösungen oder Probleme angesprochen - kaum etwas passiert. Seines Wissens habe es auch keine regulären Visa-Verfahren für einheimische Mitarbeiter der deutschen Streitkräfte gegeben. Jetzt bestehe die Gefahr, dass 80 Prozent der Ortskräfte in die Hände der Taliban fallen. Sie würden von den Islamisten bereits systematisch gesucht werden.
Zuletzt hat sich die chaotische Situation auf und um den Flughafen in Kabul stabilisiert. Berichtet wird, dass am Dienstag mehrere Transportflugzeuge starteten und landeten. Auch die Evakuierungsaktion der Bundeswehr soll intensiviert werden. Zunächst konnten nur sieben Menschen in Sicherheit gebracht werden - eine zweite Maschine mit 125 Menschen an Bord war am Dienstag unterwegs. Weitere Flüge sind geplant .
Bundeskanzlerin Angela Merkel geht von rund 10.000 Personen aus, die in Sicherheit gebracht werden sollen. Dabei geht es nicht nur um Ortskräfte und deren Familien, sondern auch um Mitarbeiter von deutschen Hilfsorganisationen. Etwa 1900 Ortskräfte der Bundeswehr sollen in den vergangenen Wochen in Sicherheit gebracht worden sein.
Noch komplizierter ist die Lage für Mitarbeiter der EU-Mission Eupol
Noch komplizierter ist die Situation bei EU-Missionen. Beispiel Eupol, eine vom Auswärtigen Dienst der EU 2007 gegründete multinationale zivile Mission, die helfen sollte, die afghanische Polizei zu reformieren und modernisieren. Lena Kilee wurde von 2010 bis 2011 als Beamtin des Innenministeriums zu Eupol an den Hindukusch beordert. Heute arbeitet sie in der Privatwirtschaft. Doch das Schicksal der afghanischen Mitarbeiter der Eupol-Mission, die 2016 beendet wurde, ließ ihr keine Ruhe. "Ich dachte, es würde in Brüssel oder den Mitgliedstaaten einen vorbereiteten Ablaufprozess für die Rettung der Ortskräfte für den Fall geben, dass die Regierung die Macht an die Taliban verliert", sagt Kilee im Gespräch mit unserer Redaktion. Aber genau das war nicht der Fall. "Die Mitgliedstaaten sagen, dass Brüssel für die Leute zuständig sei, während man dort darauf verweist, dass nur die Staaten Visa vergeben könnten." Jetzt werde unter dem Eindruck der Notsituation gehandelt - entsprechend chaotisch gehe es zu.
Lena Kilee hatte einen abgestimmten Plan zur Rettung erwartet
Lena Kilee sprach mit dem deutschen Innenministerium, das sie an das Auswärtige Amt verwies. Später auch mit dem Europäischen Auswärtigen Dienst der EU. "Ich glaube die Leute in den Behörden haben den Ernst der Lage erkannt, aber jetzt muss es schnell gehen. Brüssel sollte Listen der Ortskräfte aufstellen und die Rettung koordinieren, die EU-Staaten müssen schnell und unbürokratisch für Visa sorgen." Die Frage sei, ob es nicht zu spät ist. "Bleibt die Hoffnung, dass es den Betroffenen trotz der Taliban-Kontrollpunkte möglich sein wird, den wieder funktionsfähigen Flughafen auch zu erreichen." Wichtig ist Lena Kilee auch, dass diese fatalen Fehler bei anderen Auslandsmissionen - wie zum Beispiel in Mali - in Zukunft vermieden werden.