Nadia Safi moderierte ihre letzte Sendung am 7. August, am Tag danach eroberten die Taliban Kundus. Seitdem ist Radio Zohra ein Frauensender ohne Frauenstimmen im Liveprogramm. Die neuen Machthaber haben Frauen in Kundus angewiesen, ihren Arbeitsplätzen bis auf Weiteres fernzubleiben, ausgenommen sind nur wenige Berufe etwa im medizinischen Bereich. Vorbei sind auch die populären Sendungen mit Hörerwünschen, Musik darf auf Anweisung der Taliban nicht mehr gespielt werden. Frauenrechte, eine starke Zivilgesellschaft, freie Medien: Radio Zohra steht symbolisch für viele der Ziele, die die Deutschen in Nordafghanistan erreichen wollten – und die nun ebenso bedroht sind wie der Sender.
Statt Popmusik laufen im Radio nun Poesie-Lesungen ohne Musik
Mohammad Mochsin Achmadi ist Chefredakteur von Radio Zohra (zu deutsch: Radio Venus). Zur Erklärung seines Postens setzt er gleich selber an: Die Gründerin des Senders floh 2015 nach Deutschland, als die Taliban Kundus schon einmal vorübergehend unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Achmadi stieg damals an die Spitze auf. Heute beklagt der Chefredakteur eine ganze Reihe an Problemen: Seine Kolleginnen dürften nicht arbeiten, dem Sender gehe das Geld aus, zuletzt sei deutsche Entwicklungshilfe weggebrochen. Die Taliban griffen in die Berichterstattung ein, und wenn nicht, dann sorge Angst um die Mitarbeiter und den Sender für Selbstzensur. Nachrichten seien entsprechend bereinigt. Statt Popmusik würden jetzt beispielsweise musikfreie Poesie-Lesungen gespielt, statt aktueller Beiträge Wiederholungen von alten Interviews. Die Sendezeit sei von einst 24 auf 13 Stunden am Tag reduziert worden.
Moderatorin Safi ist nur für die Reporter aus Deutschland ins Studio gekommen. Die Schallisolation in dem stickigen Senderaum ist mit einem fleckigen blau-weißen Muster verziert, auf dem verstaubten Schreibtisch stehen zwei alte Monitore, ein Mischpult, ein Mikrofon und ein Modem. Wann Safi hier wieder moderieren darf, ist offen – sie fragt sich, ob „bis auf Weiteres“ bei den Taliban womöglich heißen könnte, dass sie für immer zu Hause sitzen soll. Safi ist 20 Jahre alt – fast so lange ist es her, dass die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan der ersten Regierung der Taliban ein Ende setzten. „20 Jahre haben Frauen für ihre Rechte gekämpft“, sagt die Journalistin. Sie wolle die Hoffnung nicht aufgeben.
Safi war ein Kleinkind, als die Bundeswehr Ende 2003 in ihrer nordafghanischen Heimatprovinz Einzug hielt. Ein sogenanntes zivil-militärisches Wiederaufbauteam sollte den Erfolg bringen. Die Logik dahinter: Die Bundeswehr sorgt für ein sicheres Umfeld, in dem zivile Entwicklungsarbeit stattfinden kann – und je mehr sich die Region entwickelt, desto sicherer wird sie. Das Konzept ging bekanntermaßen nicht auf. Im September 2009 befahl ein deutscher Oberst in Kundus die Bombardierung von zwei Tanklastern, die die Taliban entführt hatten. Dutzende Zivilisten wurden getötet. In die Geschichte der Bundeswehr ging auch das Karfreitagsgefecht am 2. April 2010 ein. Drei deutsche Soldaten starben, acht weitere wurden verwundet, als eine Patrouille bei dem Ort Isa Khel in der Provinz Kundus in einen Hinterhalt der Taliban geriet.
Eine Bitte hört man immer wieder: Können die Deutschen nicht wieder zurückkommen?
Noch vor kurzem wäre es für Ausländer undenkbar gewesen, die wenigen Kilometer von Kundus-Stadt nach Isa Khel zu fahren – zu groß war die Gefahr eines Taliban-Angriffs. Heute ist ein solcher Ausflug problemlos möglich, weil ausgerechnet die Taliban für Sicherheit in der Region sorgen. Dass den militanten Islamisten das eindrucksvoll gelingt, wird ihnen auch von ihren Kritikern beschieden. In Isa Khel erinnern sich die Dorfbewohner noch an das Karfreitagsgefecht, bei denen die Kugeln nach ihren Erzählungen nur so durch die Straßen flogen. Auch unabhängig davon sind ihnen die Bundeswehr-Soldaten noch im Gedächtnis, und das längst nicht nur positiv. Bauer Hajatullah Sadikjar beispielsweise macht die Deutschen für eine Schusswunde verantwortlich. Der 30-jährige zeigt die Narben, die Kugel hat seine Schulter durchschlagen.
In Isa Khel sind in den vergangenen Jahren kaum Ausländer gewesen, zumindest keine unbewaffneten. Sofort bildet sich eine Menschentraube um die Reporter. Ein alter Mann beklagt, seine Ehefrau und seine vier Kinder seien bei einem US-Luftangriff getötet worden. Fast jeder hat eine Leidensgeschichte zu erzählen. „Wir sind froh, dass die Taliban hier sind und das Militär abgezogen ist“, sagt Ladenbesitzer Said Rahim. „Wir sind einfache Leute, wir wollen nur Frieden.“ Die Entwicklungshilfe der Deutschen allerdings loben sie ausdrücklich in Isa Khel, ihr verdanken sie ihr Stromnetz und die asphaltierte Straße, die in die Stadt und zum Markt führt.
Diese Bitte hört man in der Region immer wieder: Könnten die Deutschen nicht wiederkommen, nur dieses Mal ohne Militär? Die Hinterlassenschaften der deutschen Entwicklungshilfe sind überall in Kundus zu finden. Das Krankenhaus beispielsweise wurde aus Bundesmitteln gebaut, selbst in der Koranschule im Stadtzentrum finden sich Spuren, dort wurden unter anderem die Küche und die Sanitäranlagen finanziert. Genutzt wird auch das Feldlager, das die Bundeswehr im Herbst 2013 feierlich an die afghanischen Sicherheitskräfte übergab, wenn auch nicht im Sinne der Bundesregierung: Heute ist es eine Basis für Taliban-Kämpfer und für Journalisten tabu.
Rund 250 Millionen Euro hatte Deutschland in die Infrastruktur des Camps investiert. Auch der Flughafen Kabul ist tabu für Reporter. Der Taliban-Sprecher von Kundus, Matiullah Ruhani, argumentiert, statt über das alte Feldlager zu berichten, sollten die beiden Reporter aus Deutschland mit den gewöhnlichen Menschen sprechen – die nämlich glücklich über die Machtübernahme der Taliban seien, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Frauen oder Männer handele. Eine Entschuldigung will Ruhani gleich zu Beginn des Gesprächs loswerden: Dass in der vorangegangenen Nacht neun bewaffnete Taliban-Kämpfer vor den Hotelzimmern der deutschen Besucher standen, sei auf ein bedauerliches Missverständnis zurückzuführen gewesen.
Die Islamisten der Taliban haben den Krieg gewonnen
Ruhani betont immer wieder, dass die Taliban deutsche und internationale Entwicklungshilfe in Kundus sehr begrüßen würden. Das könnte man aus deutscher Sicht für unverfroren halten: Die Taliban haben deutsche Soldaten getötet, das Generalkonsulat in Masar-i-Scharif in Grund und Boden gesprengt und einen schweren Anschlag auf die Botschaft in Kabul verübt. Ruhanis Sicht der Dinge ist naturgemäß eine andere. „Wir sind keine Terroristen“, sagt er. Die ausländischen „Invasoren“ hätten den Konflikt doch erst verursacht. „Es war Krieg. Menschen sind auf beiden Seiten gestorben.“ Das sei natürlich traurig. Nun hätten die Taliban Afghanistan aber Frieden gebracht.
Dem ließe sich entgegenhalten, dass es die Taliban waren, die in den vergangenen Jahren für Unfrieden gesorgt haben, am Ergebnis würde das aber nichts ändern: Fakt ist, dass die Islamisten den Krieg gewonnen haben. Wo in Kundus einst die Bundeswehr Patrouille fuhr, sorgen nun Taliban-Kämpfer für Ruhe und Ordnung. Langhaarige bärtige Männer – manche wirken wie Jugendliche – laufen mit strengem Blick und geschulterten Waffen durch die Straßen. Andere fahren in erbeuteten Polizeifahrzeugen Streife, am Kühler die weiße Taliban-Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis in schwarzer Inschrift. An den Checkpoints kontrollieren Taliban-Kämpfer die Papiere von Fahrzeuginsassen.
Dass die Taliban etwas vom Krieg verstehen, haben sie bewiesen. Ob die Islamisten regieren können, steht auf einem anderen Blatt. Die Erstauflage ihres Regimes von 1996 bis 2001 war kein Erfolgsmodell. Afghanistan war verarmt und international fast völlig isoliert. In Kundus ist der Markt zwar voll, und die Läden sind offen. Auf den Straßen herrscht das übliche Chaos, und das Ende der Kämpfe sorgt überall in der Stadt für spürbare Erleichterung. Im Hintergrund brauen sich aber gewaltige wirtschaftliche Probleme zusammen – nicht umsonst bitten die Taliban um internationale Unterstützung.
Derzeit können Afghanen pro Kontoinhaber nur einmal in der Woche Geld bei der Bank abheben, und zwar den Gegenwert von 200 Dollar (170 Euro) in Afghani, der Landeswährung, die für Importe aus dem Ausland unbrauchbar ist. Für eine Großfamilie reicht der Betrag kaum zum Überleben. Mitarbeiter der Regierung haben in Kundus seit zwei Monaten kein Gehalt mehr bekommen. Gleichzeitig explodieren die Lebenshaltungskosten, die Armut nimmt zu. Ein Finanzexperte in Kundus, der schon für die alte Regierung tätig war, warnt, dem Land drohe bald der wirtschaftliche Zusammenbruch, sollten die Taliban keine Hilfe aus dem Ausland bekommen. Den Menschen in Kundus sei das nur noch nicht bewusst. (Can Merey, dpa)