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Afghanistan: Wer hat versagt? Die Chronologie eines politischen Desasters in Afghanistan

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Wer hat versagt? Die Chronologie eines politischen Desasters in Afghanistan

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    Ein Kämpfer der Taliban patrouilliert im Stadtviertel Wazir Akbar Khan in Kabul. Von der Geschwindigkeit ihrer Machtübernahme waren die Taliban wohl selbst überrascht.
    Ein Kämpfer der Taliban patrouilliert im Stadtviertel Wazir Akbar Khan in Kabul. Von der Geschwindigkeit ihrer Machtübernahme waren die Taliban wohl selbst überrascht. Foto: Rahmat Gul, dpa

    Es war eine Woche, wie sie die deutsche Politik nur selten erlebt: Aus einem außenpolitischen Thema, das zuletzt höchstens noch für einen interessierten Zirkel von Bedeutung schien, wurde ein Symbol des kollektiven Scheiterns. Eigene Fehler der Bundesregierung, Fehler internationaler Partner, bürokratische Behäbigkeit und ein eklatanter Mangel an Wissen über das Land am Hindukusch haben dazu geführt, dass nicht nur Afghanistan selbst inzwischen in den Abgrund blickt, sondern der Westen fassungslos vor den Trümmern eines 20 Jahre währenden militärischen Einsatzes steht.

    Die Nachrichten, die seit dem vergangenen Wochenende aus Kabul nach Deutschland dringen, sind selbst für erfahrene Einsatzkräfte schwer zu verdauen. Da ist der Bundeswehrgeneral Jens Arlt, er hat die schwere Aufgabe, die Evakuierungsaktion der Bundeswehr zu leiten. „Es ist sehr, sehr turbulent alles“, sagt er in einer Online-Pressekonferenz des Verteidigungsministeriums. Über verstopfte Straßen quälen sich all jene in Richtung Flughafen, die einen der Flieger erwischen wollen, die die Bundeswehr dort bereithält. Schon der Start der Aktion verläuft turbulent. Über fünf Stunden muss am Montag der Airbus das Gelände überfliegen, weil sich zu viele verzweifelte Menschen auf dem Rollfeld aufhalten. Den Piloten droht Treibstoff auszugehen, mit dem letzten Tropfen im Tank landen sie um 22 Uhr. Von einer Entspannung der Lage kann seither keine Rede sein. „Sie werden vielleicht den einen oder anderen Schuss im Hintergrund hören. Sie sehen die verzweifelten Augen der Afghanen und auch der Staatsbürger unterschiedlicher Nationen, die einfach versuchen, in den inneren Bereich des Kabul International Airports zu gelangen, das ist schon dramatisch, was wir sehen“, sagt Arlt. „Unterschiedliche Vertreter“ der deutschen Seite versuchten, in den Außenbereichen „unsere Leute“ zu finden.

    Deutschland streitet darüber, wer gerettet werden soll

    Doch „unsere Leute“ – wer ist das überhaupt? Nach 20 Jahren in Afghanistan ist die deutsche Politik erschreckend planlos, wessen Leben sie retten will. Tausende afghanische Männer und Frauen hatten in den vergangenen Jahrzehnten Projekte unterstützt, als Übersetzer, Entwicklungshelferinnen, Fahrer. Viele von ihnen werden genau deshalb jetzt von den Taliban mit dem Tod bedroht. Schon im April will Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sie nach Deutschland holen – sie kann sich nicht durchsetzen. Die verschiedenen Ministerien in Berlin verstricken sich über Wochen in Erklärungen, später in gegenseitige Schuldzuweisungen. Am Ende ist vor allem eines klar: Wirklich gehandelt hat niemand. Auch dann nicht, als die Taliban immer größere Gebiet erobern konnten. Die Sorge, es könnte wieder eine Flüchtlingswelle über Deutschland schwappen, dominiert die Debatte. Noch am 7. Juli hebt ein Abschiebeflug nach Afghanistan ab. Helfer, die bis Anfang Juli als schutzwürdig eingestuft werden und ein Visum erhalten, müssen sich um Flug und Bezahlung selbst kümmern.

    Soldaten versuchen Menschen in Afghanistan zu retten.
    Soldaten versuchen Menschen in Afghanistan zu retten. Foto: dpa

    Einer, der in dieser Woche besonders in den Fokus rückt, ist Außenminister Heiko Maas (SPD). Nicht wenige aus der Opposition halten ihn für eine Fehlbesetzung, fühlen sich bestätigt. Es ist gerade mal zwei Monate her, dass er dem Bundestag Rede und Antwort zur weiteren Entwicklung in Afghanistan stehen musste. Entschieden spricht er sich damals gegen einen Abschiebestopp aus, verwies auf Friedensgespräche zwischen den Taliban und der Regierung in Kabul, in die er Hoffnung setze. Zwar könnten die Kampfhandlungen mit dem Abzug der Nato-Truppen erst einmal zunehmen, räumt Maas ein. Aber nicht ohne hinzuzufügen: „Alle diese Fragen haben ja die Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban in Afghanistan das Zepter in der Hand haben. Das ist nicht die Grundlage meiner Annahme.“ Noch am vergangenen Freitag versichert eine Außenamtsvertreterin bei einer Unterrichtung den Obleuten des Auswärtigen Ausschusses, Kabul werde nicht fallen, wie Abgeordnete dem Berliner Tagesspiegel bestätigen.

    Hinter den Kulissen rumort es. Selbst die deutsche Botschaft in Kabul stößt in Berlin auf taube Ohren. Immer wieder soll der Vize-Botschafter, so schreibt es der Spiegel, massive Warnungen ausgesprochen haben. Nach Informationen des ARD-Hauptstadtstudios schrieb Jan Hendrik van Thiel in seinem Lagebericht vergangene Woche, „dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen“ worden sei. Der Diplomat stellt klar: „Wenn das an irgendeiner Stelle diesmal schiefgehen sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen.“

    Bremst ausgerechnet Entwicklungshilfe-Minister Gerd Müller?

    Doch in den Ministerien haben die Bedenkenträger das Sagen. Einer von ihnen soll ausgerechnet Entwicklungshilfe-Minister Gerd Müller (CSU) sein. Der Spiegel schildert, dass sein Haus es war, das befürchtete, afghanische Helferinnen und Helfer vor Ort zu verlieren, wenn man denen ein Angebot mache, nach Deutschland zu gehen. Es soll nicht das Signal ausgesandt werden, die Sicherheitslage mache ein Verlassen des Landes erforderlich.

    Joe Biden, Präsident der USA, will das Kapitel Afghanistan abschließen - auch, wenn es kein Happy End hat.
    Joe Biden, Präsident der USA, will das Kapitel Afghanistan abschließen - auch, wenn es kein Happy End hat. Foto: Susan Walsh, dpa

    Dass in Kabul plötzlich alles ganz schnell ging, hat wohl wesentlich mit den Amerikanern zu tun. Die räumten am Wochenende die sogenannte „green zone“, das stark gesicherte Diplomatenviertel in Kabul – vielen anderen Nationen schien das entgangen zu sein, nicht aber den Taliban. Die verstehen dies als Einladung, dass die Stadt nun ihnen gehört. Präsident Aschraf Ghani flieht ins Exil, nach eigener Aussage nur mit Hausschuhen und wenigen Habseligkeiten, nach Aussage vieler Beobachter hingegen mit massenhaft Geld. Der Sündenfall der US-Regierung setzt einen Domino-Effekt in Gang, der selbst Präsident Joe Biden unter sich begräbt. Sein Vorgänger Donald Trump war es, der die Verhandlungen mit den Taliban begann. Doch bis heute weigert sich Biden, dies als Fehler zu einzugestehen.

    Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer machen zur Feier ihrer Machtübernahme in Kabul ein Gruppenfoto.
    Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer machen zur Feier ihrer Machtübernahme in Kabul ein Gruppenfoto. Foto: Rahmat Gul, dpa

    In Berlin gehen die Schuldzuweisungen weiter. Längst hat der BND durchsickern lassen, dass er nicht so unfähig war, wie es die Politik gerne darstellen würde. Selbst wenn die Agenten den Fall Kabuls nicht präzise vorhergesagt hatten, so warnten sie doch seit langem davor, dass die Machtübernahme der Taliban nach dem Abzug der internationalen Truppen nur eine Frage der Zeit sei.

    In elf Tagen haben die Taliban Afghanistan erobert

    Mit Staunen beobachtet die Welt nicht nur das Scheitern des Westens, sondern auch das Auftreten der Taliban. „Wir haben ganz Afghanistan in elf Tagen erobert“, sagt der Taliban-Sprecher am Dienstag. Die Gruppe gibt eine Pressekonferenz, selbstbewusst sind die Männer mit den schussbereiten Waffen, aber wohl auch ein wenig selbst von ihrem raschen Erfolg überrascht. Davon, dass sie das Land regieren, kann ohnehin noch nicht die Rede sein. Die Verwaltungsstrukturen liegen brach, mit Gewehren lässt sich eine Stadt erobern, aber nicht managen. Das war ihnen schon in den 90er Jahren nicht gelungen.

    US-Marines der 24th Marine Expeditionary Unit MEU fliegen zum Hamid Karzai International Airport.
    US-Marines der 24th Marine Expeditionary Unit MEU fliegen zum Hamid Karzai International Airport. Foto: Mark Andries, dpa

    In Afghanistan wird die Verzweiflung der Menschen am Flughafen von Stunde zu Stunde gefährlicher. Kämpfer der Taliban feuern in die Luft und schlagen mit Peitschen, um die Leute zu vertreiben. Am Freitag wird ein deutscher Zivilist auf dem Weg zum Airport angeschossen. Der Zeitdruck ist gewaltig. Denn: Die Deutschen können nur handeln, solange die Amerikaner vor Ort sind, alleine wären sie verloren. Die USA aber will ihre Truppen bis zum 31. August abziehen. Biden schließt zwar nicht aus, dass sie zur Evakuierung von US-Bürgern auch über den 31. August hinaus in Kabul bleiben – sicher ist das, wie so vieles in Afghanistan in dieser Woche, nicht. (mit dpa)

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