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Afghanistan: Vormarsch der Taliban: Welche Zukunft liegt vor Afghanistan?

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Vormarsch der Taliban: Welche Zukunft liegt vor Afghanistan?

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    Geschundenes Afghanistan: Ein Mann sieht durch eine zerbrochenen Fensterscheibe nach einem Raketenangriff.
    Geschundenes Afghanistan: Ein Mann sieht durch eine zerbrochenen Fensterscheibe nach einem Raketenangriff. Foto: Rohullah, dpa

    Die Zahlen geben eine düstere Vorahnung davon, was auf die Menschen in Afghanistan zukommen könnte: Kaum haben die internationalen Truppen das geplagte Land am Hindukusch verlassen, erobern die radikal-islamischen Taliban Stadt für Stadt, Provinz für Provinz. Die Anzahl der zivilen Opfer hat inzwischen ein Rekordniveau erreicht. Allein im Mai und Juni wurden nach einem Bericht der Vereinten Nationen 2392 Zivilisten verwundet oder getötet - so viele wie noch nie seit Beginn der UN-Aufzeichnungen 2009. Mehr als 160 der 400 Bezirke des Landes haben die selbsternannten Gotteskrieger unter ihre Kontrolle gebracht, zudem mehrere Grenzübergänge und Teile wichtiger Überlandstraßen. Selbst in Regionen Afghanistans, in denen sie bislang kaum eine Basis hatten, breiten sich die Taliban aus – und geben damit nicht nur dem Westen eine bittere Ahnung davon, wohin der Weg für die Afghaninnen und Afghanen führen könnte.

    „Wir stehen in Afghanistan an einem Wendepunkt“, sagt Ellinor Zeino, Leiterin des Regionalprogramms Südwestasien der Konrad-Adenauer-Stiftung. Zeino lebt seit drei Jahren in Kabul, in der Hauptstadt ist die Lage aktuell vergleichsweise ruhig. Doch die Nervosität steigt. Die Zahl der Binnenflüchtlinge in Kabul steigt spürbar an, 22.000 Menschen seien zuletzt alleine aus Kandahar geflohen. „Die Taliban gehen sehr strategisch vor“, sagt Zeino. Tagsüber würden sie ländliche Regionen erobern, dort haben sie verhältnismäßig leichtes Spiel; nachts dann nehmen sie auch die Städte unter Beschuss. Sie besetzen Häuser, töten Gegner. Die Regierungstruppen versuchen dagegenzuhalten. Unter anderem mit Luftschlägen soll der Vormarsch gestoppt werden – bislang aber ohne Erfolg. Zuletzt hatten auch die USA mitgeteilt, wieder vermehrt Luftschläge im Land durchzuführen. Die Flieger dafür steigen mittlerweile von außerhalb Afghanistans auf. Doch es sind eher Nadelstiche, die Gesamtlage ändert sich dadurch nicht.

    Junge, radikale Männer spalten die Taliban-Bewegung

    „Es herrscht eine große Verunsicherung bei den normalen Menschen“, sagt Ellinor Zeino. Das liege auch daran, dass vielen nicht mehr klar sei, wie die Taliban überhaupt organisiert sind. „Ich bezweifle, dass die Taliban noch eine homogene Bewegung sind“, sagt Zeino. Da sei zum einen die offizielle Führung, die derzeit auch „Friedensgespräche“ in Doha führt und zu einem pragmatischen Kompromiss bereit sein könnte. „Die Führung der Taliban will die politische Macht, sie will keinen Bürgerkrieg“, erklärt die Afghanistan-Expertin. Zum anderen hätten in den Provinzen aber längst andere das Sagen, junge, radikalisierte Männer. „Die sind kompromisslos“, sagt Zeino. „Sie haben viele Kämpfer aus ihren Reihen verloren, wurden verletzt – nun wollen sie das Gefühl haben, dass sich das gelohnt hat.“ Das hat Folgen für die Sicherheitslage im Land: Jeder Waffenstillstand, der ausgehandelt wird, kann sofort von einer anderen Gruppierung gebrochen werden, die kein Interesse an einer Beruhigung der Lage hat. Es reiche also nicht aus, nur auf die offiziellen Verhandlungspartner zu setzen.

    Was heißt das für die Zukunft? „Es ist wichtig, dass wir realistische Erwartungen haben, dass wir nicht denken, dass nach einem Friedensschluss auch wirklich Frieden herrscht“, sagt Ellinor Zeino. „Das wird ein langer Prozess und gerade die Zeit nach einem möglichen Abkommen wird eine sehr verwundbare Zeit werden, in der wir mit vielen Störmanövern rechnen müssen.“ Auch das Land selbst werde sich mit dem Abzug des Westens verändern. Die afghanische Regierung - wie auch immer sie zusammengesetzt sein wird - wird sich neue Bündnispartner in der Region suchen. Schon jetzt würden die Regionalstaaten wie Pakistan, Iran oder Indien wieder eine größere Rolle spielen und selbst mit den Taliban über die Perspektiven für die Zukunft verhandeln.

    Wang Yir, Außenminister von China, und Mullah Abdul Ghani Baradar, afghanischer Führer der Taliban, stehen während eines Treffens zusammen.
    Wang Yir, Außenminister von China, und Mullah Abdul Ghani Baradar, afghanischer Führer der Taliban, stehen während eines Treffens zusammen. Foto: Li Ran, dpa

    China ist als neuer Teilnehmer im Konzert der Mächtigen hinzugekommen, erst in der vergangenen Woche wurde öffentlich, dass sich der chinesische Außenminister mit einer Taliban-Delegation getroffen hat. Die beiden Länder teilen eine gemeinsame Grenze. Peking ist daran gelegen, dass der Terrorismus in der Region keinen neuen Auftrieb erfährt – auch, um islamistische Gruppierungen im eigenen Land kleinzuhalten. Aber auch als (sicheres) Transitland für die chinesische Seidenstraße ist Afghanistan interessant. „Das Land wird sich verändern, andere Akteure werden Afghanistan mit ihren politischen und gesellschaftlichen Werten prägen“, sagt Ellinor Zeino. Die alten Player werden das wohl eher aus der Ferne beobachten, zu schmerzhaft sind die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte gewesen. Die Militäreinsätze sitzen den Russen genauso wie den Amerikanern und den Deutschen in den Knochen.

    Wie geht Europa mit afghanischen Flüchtlingen um?

    Und doch wird sich Europa dafür interessieren müssen, wie es im Hindukusch weitergeht. Schon jetzt nimmt die Zahl der Flüchtlinge zu. An der türkischen Grenze kommen immer mehr Afghanen an. Tausende sind ohnehin bereits in Deutschland – ihre Chance auf Asyl sind allerdings schlecht. Doch durch die sich zuspitzende Lage gewinnt die Diskussion an Schärfe, wie Berlin mit den Menschen umgehen soll. CDU-Chef und Kanzlerkandidat Armin Laschet positioniert sich zumindest gegenüber Straftätern mit einer harten Linie. „Wir beobachten die Situation in Afghanistan sehr genau. Den Vormarsch der Taliban und die Folgen für die Bevölkerung können wir nicht ignorieren. Die Lage erfordert daher eine fortlaufende Bewertung und sorgsames Vorgehen bei Rückführungen. Aber unsere Linie bleibt klar: Wer in Deutschland straffällig wird, hat sein Gastrecht verwirkt“, sagte er jetzt der Bild. „Der Grundsatz ,Null Toleranz gegenüber Kriminellen‘ erlaubt keine Ausnahmen. Straftäter müssen weiter konsequent abgeschoben werden, auch nach Afghanistan.“ Kritik kommt vom SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans. „Diese Überlegung ist voll auf der menschenfeindlichen Linie von Populisten. Auch ausländische Straftäter sind Menschen. Sie verdienen ihre Strafe, aber niemand hat das Recht, sie in den Tod zu schicken. Sollte das drohen, müssen Abschiebungen gestoppt werden“, sagte er der Rheinischen Post.

    Polizeibeamte begleiten einen Afghanen in ein Charterflugzeug. Deutschland will weiter vor allem Straftäter nach Afghanistan abschieben.
    Polizeibeamte begleiten einen Afghanen in ein Charterflugzeug. Deutschland will weiter vor allem Straftäter nach Afghanistan abschieben. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Experten raten, zumindest bei jenen, die keine Straftaten begonnen haben, eine individuelle Prüfung der Einzelfälle vorzunehmen – denn sonst besteht die Gefahr, dass sich die Abgeschobenen gleich wieder auf den Weg in Richtung Europa machen. Viele Männer und Frauen mit afghanischem Pass haben nie im eigenen Land gelebt, sondern haben sich über Jahre und Jahrzehnte als Flüchtlinge im Iran aufgehalten. Ihnen fehlt bei einer Abschiebung das Netzwerk, um sich unter diesen schwierigen Bedingungen behaupten zu können. Hinzu kommt: Viele Afghanen selbst stehen den Rückkehrern mit größten Vorbehalten gegenüber, sie gelten als Verlierer und zweifelhafte Mitbürger.

    Warum Entwicklungshilfe ein schwieriges Thema ist

    Doch auch allein mit Entwicklungshilfe wird sich die Fluchtbewegung kaum aufhalten lassen, glaubt KAS-Expertin Ellinor Zeino. „Das hat teilweise auch die Korruption befördert und die Gesellschaft gespalten in Afghanen, die Zugang zu den Geldern hatten, und jenen, die das nicht hatten“, sagt sie. Die Menschen würden eher wirtschaftliche Situationen brauchen, Investitionen in die desolate Infrastruktur und humanitäre Hilfe aufgrund der Hungersnot und mangelnden medizinischen Versorgung. „Ein Staatsaufbau von außen ist wenig realistisch, davon wird man sich nun eher verabschieden müssen“, sagt Zeino. Die vergangenen 20 Jahren haben zumindest das bewiesen.

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