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Afghanistan: USA verstärken Truppen, um Bürger aus Afghanistan zu holen

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USA verstärken Truppen, um Bürger aus Afghanistan zu holen

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    Gerade mal sieben Tage – und 18 von 34 Provinzhauptstädten Afghanistans sind an die Taliban gefallen. Mittlerweile werden sie auch ohne einzigen Schuss der Regierungskräfte an die Islamisten übergeben.
    Gerade mal sieben Tage – und 18 von 34 Provinzhauptstädten Afghanistans sind an die Taliban gefallen. Mittlerweile werden sie auch ohne einzigen Schuss der Regierungskräfte an die Islamisten übergeben. Foto: Gulabuddin Amiri, dpa

    Ganz offensichtlich mochte Joe Biden keine Fragen gestellt bekommen. Mit mehr als zweistündiger Verspätung hatte er im East Room des Weißen Hauses seinen Plan zur Senkung der Arzneimittelpreise vorgetragen, der an diesem Tag die meisten Zuhörer nur mäßig interessierte. Kaum war der Text vom Teleprompter abgelesen, schritt der Präsident entschlossen zur Tür. „Ist Afghanistan verloren?“, rief ihm ein Journalist hinterher. Eine Antwort bekam er nicht.

    Afghanistan: Dramatische Entwicklung am Hindukusch

    Angesichts der dramatischen Entwicklung am Hindukusch deutet vieles darauf hin, dass die Annahme des Reporters keinesfalls übertrieben ist: Wie Dominosteine fallen gerade die afghanischen Provinzhauptstädte an die militant-islamistischen Taliban. Stolz posieren die radikalen Gotteskämpfer mit amerikanischen Humvee-Militärtrucks und Gewehren aus US-Produktionen für die erschrockene Weltgemeinschaft. Schon im nächsten Monat, so fürchten amerikanische Experten inzwischen, könnte die Hauptstadt Kabul fallen.

    Joe Biden droht nach einem 20-jährigen Krieg, der Amerika mehr als 830 Milliarden Dollar kostete, eine gewaltige außenpolitische Schmach. Im April hatte der Präsident den geordneten Abzug der US-Truppen zunächst bis zum Jahrestag der Terroranschläge am 11. September und dann bis zum 31. August angekündigt. Nun muss er stattdessen zusätzliche Soldaten schicken, um eine chaotisch wirkende Evakuierung abzusichern – von den drohenden Gräueltaten gegen Helfer und Verbündete seines Landes ganz zu schweigen. Die Stimmung im Weißen Haus, schreibt die New York Times, schwanke zwischen Besorgnis und Resignation. Das demütigende Bild des Hubschraubers auf dem Dach der US-Botschaft, der 1975 nach dem Fall von Saigon eilig die letzten

    Biden sendet tausende US-Soldaten nach Afghanistan

    Rund 3000 Army-Infanteristen und Marines sollen spätestens bis zum Samstag in Kabul landen und dort zusammen mit den während des bisherigen Abzugs verbliebenen 1000 US-Soldaten die Evakuierung absichern. Tausend weitere Soldaten werden zur Unterstützung auf einen Stützpunkt ins Emirat Katar und 4000 nach Kuwait verlegt. Schon kursieren in Washington Gerüchte, dass die US-Botschaft in Kabuls Innenstadt geschlossen und zum Flughafen verlegt werden soll, um das Personal im Notfall schneller ausfliegen zu können. Am Freitagmorgen meldete der renommierte US-Sender NPR, dass die Angestellten eilig Kisten packen und sensible Unterlagen zerstören.

    Gestrandete Menschen, die die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan überqueren. Pakistan hat seinen Grenzübergang Chaman zeitweilig geöffnet.
    Gestrandete Menschen, die die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan überqueren. Pakistan hat seinen Grenzübergang Chaman zeitweilig geöffnet. Foto: Jafar Khan/AP/dpa

    Offenbar hat die Biden-Regierung die Entschlossenheit der Taliban, trotz laufender Friedensverhandlungen auf brutale Weise Fakten zu schaffen, ebenso fatal unterschätzt, wie sie die Stärke und Moral der Regierungstruppen überschätzt hat. Mindestens sechs Monate werde sich die Regierung Aschraf Ghani nach dem endgültigen Abzug der Amerikaner noch halten, hatten die US-Geheimdienste im Juni noch vorausgesagt. Nun scheint die staatliche Gewalt binnen Wochen oder gar Tagen regelrecht zu kollabieren.

    Washington Post: "Bidens Abzug droht zum Desaster zu werden"

    Am Dienstag noch stand Biden im East Room des Weißen Hauses und demonstrierte Entschlossenheit. Ob er die Entscheidung zum Abzug revidieren wolle, wurde er da gefragt. „Nein“, antwortete der Präsident fest: „Ich bereue nichts.“ „Dringend“ ermahnte Bidens Sprecherin Jen Psaki in dieser Woche die Taliban, den vereinbarten Friedensprozess einzuhalten und drohte: „Diese Aktionen werden ihnen nicht die internationale Anerkennung bringen, die sie suchen.“ Die Eroberung von mehr als einem Dutzend Provinzhauptstädte vermittelt nicht den Eindruck, dass dieses Argument die Islamisten sonderlich beeindruckt.

    Kämpfer der militant-islamistischen Taliban patrouillieren in der Stadt Gasni im Osten Afghanistans.
    Kämpfer der militant-islamistischen Taliban patrouillieren in der Stadt Gasni im Osten Afghanistans. Foto: Gulabuddin Amiri/AP/dpa

    Entsprechend kritisch sind nun die Kommentare in den amerikanischen Zeitungen. „Bidens Abzug droht zum Desaster zu werden“, schrieb am Freitag die Washington Post. Das Wall Street Journal sprach von einem „Debakel“ nicht nur für Afghanistan: „Wenn die Gesetzeslosen dieser Welt spüren, dass einer Supermacht der Wille fehlt, ihre Freunde zu schützen, werden sie bald nach anderen Wegen suchen, das auszunutzen.“

    Afghanistan: Donald Trump hatte 2020 den Abzug vereinbart

    Zur Wahrheit gehört freilich, dass nicht Biden, sondern sein Vorgänger Donald Trump nach obskuren Verhandlungen mit den Taliban und ohne Rücksprache mit den Alliierten im Februar 2020 den amerikanischen Abzug vereinbart hat. Biden zögerte den ursprünglich zugesagten Endpunkt sogar noch um ein paar Monate hinaus. Das hindert Trump nun nicht daran, seinen Nachfolger für das „Chaos“ verantwortlich zu machen und zu behaupten, unter seiner Regierung wäre der Abzug „ganz anders und viel erfolgreicher“ verlaufen, weil die Taliban ihn ernst genommen hätten.

    Trump-kritische Republikaner wie der Abgeordneten Adam Kinzinger, der als Air-Force-Pilot im Irak und in Afghanistan kämpfte, üben scharfe Kritik: „Wir stehen vor einem Desaster, nicht weil wir geschlagen wurden, sondern weil wir aufgegeben haben“, twitterte er: „Dafür sind Trump und Biden gemeinsam verantwortlich.“

    Bei Umfragen stimmten fast 70 Prozent der US-Bevölkerung dem Abzug zu

    Ein öffentlicher Stimmungsumschwung in den USA für eine erneute militärische Intervention scheint gleichwohl eher unwahrscheinlich. Bei Umfragen im Frühjahr stimmten regelmäßig zwischen 60 und 70 Prozent der Bevölkerung dem Abzug der Truppen zu. „Die rasanten Erfolge der Taliban in Afghanistan unterstreichen die Sinnlosigkeit der dauernden Besatzung“, bringt der ehemalige republikanische Kongressabgeordnete Justin Amash das Empfinden vieler US-Bürger auf den Punkt: „Die Vereinigten Staaten waren außerstande, die Umstände während eines 20-jährigen Krieges sinnvoll zu verändern.“

    Der inzwischen zur Libertären Partei gewechselte Politiker formulierte eine ebenso provokative wie frustrierende These: „Wir hätten dieselben Resultate gesehen, wenn wir vor 15 Jahren oder in 15 Jahren gegangen wären.“

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