Das deutsche Staatsoberhaupt fasste die Lage in Afghanistan und seiner Hauptstadt so zusammen: „Die Bilder der Verzweiflung am Flughafen in Kabul sind beschämend für den politischen Westen.“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gab damit am Dienstag in Berlin wohl die Meinung vieler Menschen wieder. Die Bewältigung der Lage vor Ort ist eine Sache. Die andere ist der Umgang mit den Menschen, die vor den Taliban aus Afghanistan flüchten. Zwischen 300.000 und fünf Millionen Menschen könnten es sein, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) nach Informationen unserer Redaktion bei einer Sitzung der im Bundestag vertretenen Fraktionsspitzen abstrakt schätzte. Das Ziel der meisten Parteien ist es, die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten.
Millionen Afghanen auf der Flucht
Zahlen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) zeigen die dramatische Lage. Seit Jahresbeginn wurden (Stand Montag) rund 551.000 Afghanen vertrieben, die meisten davon Frauen und Kinder. Sie kommen zu den 2,9 Millionen Flüchtlingen des letzten Jahres hinzu. Wie viele der 38 Millionen Afghanen sich noch auf den Weg machen, ist natürlich ungewiss. Aber dass sie kommen werden, steht nach Einschätzung einiger Experten außer Frage.
„Deutschland und die EU müssen den Tatsachen ins Auge blicken: Es steht angesichts des Unrechtsregimes der Taliban eine neue Fluchtbewegung bevor“, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Anrainerstaaten wie die Türkei, Pakistan und der Iran bräuchten Unterstützung, damit sie diese Menschen aufnehmen und mit dem Nötigsten versorgen könnten.
Pakistan soll die Menschen aufnehmen
Pakistan hat laut UNHCR bislang rund 1,4 Millionen, der Iran etwa 780.000 afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Diesen Ländern kommt aus Sicht der Bundesregierung eine Schlüsselrolle zu. Sie sollen die Flüchtlinge aufnehmen, damit die sich nicht auf den Weg nach Europa machen. Die Fehler der Vergangenheit dürften hier nicht wiederholt werden, erklärte Kanzlerin Angela Merkel. 2015 sei nicht genug Geld an das UNHCR gezahlt worden, in der Folge hätten sich Menschen aus Jordanien, Libanon und Syrien direkt nach Europa aufgemacht. „Es geht jetzt darum, dass wir heute schneller sind und schnell den Nachbarstaaten Hilfe anbieten“, sagte die CDU-Politikerin. Erst in einem zweiten Schritt soll es um Flüchtlingskontingente gehen, die „kontrolliert“ nach Europa kommen.
Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte ebenfalls, „eine erneute Flüchtlingswelle wie 2015“ müsse verhindert werden. Es sei nun dringend notwendig, „die Nachbarstaaten von Afghanistan zu unterstützen und ihnen schnellstmögliche Hilfe zukommen zu lassen, damit sie afghanische Flüchtlinge aufnehmen und ausreichend versorgen können“. Hermann sah dabei „vorrangig die USA in der Verantwortung“. FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae beurteilte die Lage ähnlich. „Um langen Flüchtlingstrecks nach Europa vorzubeugen, ist es dringend erforderlich, mithilfe des UNHCR bereits in den Nachbarländern Afghanistans Strukturen zu schaffen, in denen Menschen auch für längere Zeit leben können“, sagte er und forderte einen raschen EU-Sondergipfel.
Experte: Warnung vor 2015 ist "unlauter"
Der Migrationsforscher Steffen Angenendt von der Stiftung Wissenschaft und Politik warnte hingegen davor, mit der Warnung vor 2015 Ängste zu schüren. Er gehe von wachsenden Flüchtlingszahlen aus, sagte er. Man werde aber „bei weitem nicht die Zahlen von 2015 und 2016 erreichen“. Damals kamen mehr als 1,1 Millionen Asylsuchende nach Deutschland. Heute hat sich Europa weitgehend abgeriegelt. Griechenland als Land an der östlichen EU-Außengrenze jedenfalls will mögliche afghanische Migranten stoppen. Ungarn hat an der Grenze zu Serbien einen Metallzaun errichtet. In Deutschland kamen im Juli mehr als 12.000 Asylsuchende an. Die größte Gruppe unter denen, die erstmals Asyl beantragten, waren Syrer (4759 Menschen), gefolgt von Afghanen (2353).