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Afghanistan - Flucht vor Taliban: Wie die Menschen in Kabul fliehen

Afghanistan

Rette sich, wer kann: Wie Menschen in Kabul vor den Taliban fliehen

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    Hunderte, vielleicht tausende Menschen versuchten am Flughafen Kabul, in eine der Militärmaschinen zu gelangen.
    Hunderte, vielleicht tausende Menschen versuchten am Flughafen Kabul, in eine der Militärmaschinen zu gelangen. Foto: Wakil Kohsar/AFP, Getty Images

    In der Panik gibt es keine Hemmschwelle. Keine Bedenken, kein Abwägen. Die Angst vor dem, was von Menschenhand droht, ist an diesem Montagmorgen ungleich größer als die Angst vor einem tonnenschweren Flugzeug. Als die Transportmaschine der US Air Force in Richtung Startbahn rollt, rennen dutzende Menschen links und rechts des grauen Ungetüms einfach mit. So lange es eben geht. Video-Aufnahmen zeigen, wie sich einige an die Tragflächen und das Heck klammern. Bloß raus aus diesem Kabul, egal wie.

    Als die Bilder im deutschen Fernsehen zu sehen sind, haben längst schaurige Clips in sozialen Medien die Runde gemacht. Sie zeigen, wie angeblich Menschen aus großer Höhe aus einem Militärflugzeug fallen. Menschen, die sich vor dem Abflug im Fahrwerk der Maschine versteckt haben sollen. Ein Mann, der in der Nähe des Hauptstadt-Flughafens wohnt, schreibt der Deutschen Presse-Agentur auf Facebook, eine Person sei auf ein benachbartes Dach gefallen. Es habe gekracht, als habe es eine Explosion gegeben.

    Ob diese Clips echt sind und die Erzählungen des Mannes stimmen – man weiß es nicht. Im Chaos dieser Tage ist dies praktisch nicht überprüfbar. Was die Welt spätestens seit Sonntag weiß, seit der Besetzung des Präsidentenpalasts: Die Taliban haben wieder die Macht in Afghanistan erobert – und Todesangst nach Kabul zurückgebracht.

    Aber was heißt schon: erobert? Die Kämpfer der radikalislamischen Terrorgruppe sind mit ihren einfachen Pick-ups binnen weniger Wochen einfach über das Land hinweggefegt und haben eine Stadt nach der anderen eingenommen – fast immer ohne Gegenwehr. Die Regierungstruppen, nach offiziellen Angaben immerhin an die 300.000, die über Jahre von den Nato-Truppen ausgebildet und bewaffnet worden waren – sie haben vor ihnen gekuscht wie das Kaninchen vor der Schlange oder gleich mit ihnen sympathisiert.

    Ein Experte sagt über Afghanistan: Warum sollen die schlecht bezahlten Soldaten kämpfen?

    Der Leiter der Kinderhilfe Afghanistan, Reinhard Erös, ist nicht überrascht und schon gar nicht entrüstet darüber. „Warum sollen die schlecht bezahlten Soldaten kämpfen, warum sollen sie auf ihre Landsleute schießen, wenn sich die Regierung absetzt, der Präsident schon außer Landes ist? Warum sollen sie für ein solch korruptes System ihr Leben riskieren?“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Die von Erös gegründete Kinderhilfe hat im Osten des Landes 17 Schulen – auch für Mädchen – gebaut.

    Wird es eine Neuauflage des einstigen Terrorregimes geben? Einig sind sich Beobachter, dass die Taliban keineswegs einen monolithischen Block darstellen. Befürchtet wird, dass gerade jüngere Kommandanten im Rausch ihrer neuen Macht außer Kontrolle geraten könnten. Dann wird die Frage sein, ob es den moderateren Taliban gelingen wird, diese Leute zu stoppen.

    Thomas Ruttig von der Forschungsorganisation Afghanistan Analysts Network, glaubt, dass die Taliban aus ihrer Niederlage von 2001 Konsequenzen gezogen haben und Fehler diesmal vermeiden wollen. „Sie haben gelernt, dass sie nicht gegen die Bevölkerung regieren können. Das bedeutet nicht, dass sie demokratisch sind oder die Frauenrechte respektieren. Aber sie sind pragmatischer geworden“, sagte der Experte bereits im Frühjahr im Gespräch mit unserer Redaktion.

    Gleichzeitig ist Ruttig davon überzeugt, dass zwei Dinge das Verhalten der Taliban verändern könnten. Druck aus der afghanischen Bevölkerung, die nicht zu den Zuständen vor 2001 zurückwolle, aber auch der Einfluss ausländischer Geldgeber. Auch eine Taliban-Regierung würde nicht auf finanzielle Hilfe von außen verzichten können.

    Flucht vor den Taliban: Menschen in Panik klettern über die Mauern des Flughafens von Kabul

    Die Verzweiflung derer, die nun vor ihr flieht, ist vor allem am Flughafen zu sehen. Unzählige Menschen klettern über Mauern, um aufs Rollfeld zu gelangen, auf Gangways, um zu Flugzeugen zu kommen, die eh schon überfüllt sind. Eine Ordnung gibt es nicht mehr. Hunderte, vielleicht Tausende haben sich seit Sonntag auf den Weg zum Airport gemacht.

    Dieser Ausschnitt aus Fernsehaufnahmen zeigt, wie auf dem Flughafen von Kabul hunderte Menschen neben einer Boeing C-17 der United States Air Force rennen. Sie sind auf der Flucht vor den Taliban über die Mauern des Airports geklettert.
    Dieser Ausschnitt aus Fernsehaufnahmen zeigt, wie auf dem Flughafen von Kabul hunderte Menschen neben einer Boeing C-17 der United States Air Force rennen. Sie sind auf der Flucht vor den Taliban über die Mauern des Airports geklettert. Foto: UGC/AP, dpa

    Die deutsche Botschaft hat noch davor gewarnt, es bestehe Lebensgefahr. Aber wer hört in der Panik schon auf eine Botschaft, auch wenn es die deutsche ist? Es gab Berichte, wonach US-Soldaten Schüsse abgegeben hätten, um den Flughafen zu sichern. Es soll Tote gegeben haben. Auch das kann bislang niemand bestätigen.

    In Kabul selbst haben die Taliban Polizeistationen und andere Behörden besetzt. Ein Journalist, der einige Jahre für das Pressezentrum der Bundeswehr in Masar-i-Scharif arbeitete, berichtet im Deutschlandfunk, die Islamisten hätten viele Kontrollpunkte errichtet und würden mit Polizeiwagen durch die Straßen patrouillieren.

    Dann erzählt er von seiner eigenen Situation. Dass er mit seiner Frau per Flugzeug nach Deutschland gelangen will, da er fürchtet, auf einer Liste der Taliban zu stehen. Seit ihrer Flucht aus Masar-i-Scharif halten sie sich in einer Wohnung versteckt. Auf die Straße wagen sie sich nicht. Und wenn doch, müsse seine Frau eine Burka tragen, um den Erwartungen der Rebellen zu entsprechen.

    Auch Jan Jessen geht nicht auf die Straße. Er sitzt in einem Gästehaus im Osten von Kabul. Unter ihm die alten, zerschlissenen Stoffbezüge der Sofas, vor ihm die immer voller werdenden Aschenbecher, draußen sind immer wieder Gewehrsalven zu hören. Die Vorhänge der Unterkunft sind zugezogen, nur der Schein einer Lampe erhellt den Raum. Warten und Teetrinken.

    Nachts reißen Schüsse den Reporter in Afghanistan aus dem Schlaf

    Jessen ist Leiter des Politikressorts der Neuen Ruhrzeitung (NRZ) und einer der wenigen deutschen Journalisten, die sich überhaupt noch in der afghanischen Hauptstadt aufhalten. Gemeinsam mit zwei Helfern der Organisation „Friedensdorf international“ war er vor wenigen Tagen nach Afghanistan gereist, um über die Arbeit der NGO zu berichten. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich in dem Land am Hindukusch aufhält, doch so brenzlig, so angespannt wie jetzt war die Lage nie. Im Minutentakt ploppen auf seinem Handy die Nachrichten aus Deutschland auf, besorgte Nachfragen von Freunden und Familie. Alles gut, sagt er dann.

    „Wir wollen eigentlich raus, aber am Flughafen ist totales Chaos – da geht gerade gar nichts“, erzählt er am Telefon. Die Verbindung ist klar, um dann im nächsten Moment doch wieder abzubrechen. „Wir müssen erst einmal abwarten, bis sich die Lage etwas beruhigt“, sagt er. An diesem Dienstag, vielleicht Mittwoch könnte es klappen, so hofft er zumindest. Die deutsche Botschaft hält den Kontakt zu den Deutschen im Land. Doch selbst, wenn er es in die Luft geschafft haben sollte, ist noch längst nicht alles klar. Es heißt, die Bundeswehrmaschine bringe die Menschen nach Tadschikistan, von dort aus müsse jeder auf eigene Faust versuchen, zurück in die Heimat zu kommen.

    Jessen ist ein erfahrener Journalist, seit Jahren bereist er die Krisengebiete dieser Welt. Aus der Ruhe bringen lässt er sich auch von diesen Nachrichten nicht. Selbst, wenn er das Gästehaus inzwischen kaum mehr verlassen darf. „Das große Problem ist, dass auf den Straßen sehr viele Plünderer unterwegs sind“, erzählt er.

    Taliban-Kämpfer sitzen in einem Raum des Präsidentenpalastes in Kabul. Den haben die radikalen Islamisten am Sonntag eingenommen.
    Taliban-Kämpfer sitzen in einem Raum des Präsidentenpalastes in Kabul. Den haben die radikalen Islamisten am Sonntag eingenommen. Foto: Zabi Karimi/AP, dpa

    Nachts reißen ihn Schüsse aus dem Schlaf. „Es gibt Leute, die das Machtvakuum, das sich für einen Moment aufgetan hat, für sich nutzen wollen“, sagt Jessen. Die Taliban hätten inzwischen ein Gefängnis eingerichtet, in dem bereits mehr als 200 Menschen sitzen. „Teilweise verkleiden sich die Kriminellen sogar als Taliban“, sagt er. Die Strafe für die Plünderer wird drakonisch sein. Die Scharia sieht für Diebstahl ein Abhaken von Händen, manchmal auch Beinen vor.

    Alle hoffen, dass das große Sterben in Afghanistan diesmal ausbleibt

    Die Stimmung in Kabul ist ein seltsames Gemisch aus Angst vor der Zukunft und einem Pragmatismus, wie er wohl nur in krisengeschüttelten Ländern zu finden ist. Die Afghaninnen und Afghanen, so schildert es Jessen, scheinen sich fast schicksalsergeben in ihr neues Leben zu fügen. So dramatisch die Situation am Flughafen ist und so gespenstisch ruhig in vielen Straßen der Vier-Millionen-Einwohner-Stadt, so alltäglich ist in anderen Vierteln schon wieder das Treiben. Auf Märkten verkaufen Händler ihre Waren, Restaurants sind geöffnet, Hochzeitsgesellschaften fahren laut hupend durch die Stadt. „Man merkt die Nervosität unter der Oberfläche, aber das Leben muss eben weitergehen“, so Jessen. „Es herrscht ein gewisser Fatalismus.“

    Seit 46 Jahren befindet sich das Land im Krieg, erst unter den Russen, dann unter den Amerikanern, nun kehren also die Taliban zurück. Immer wieder traf Jessen in den vergangenen Tagen Familien, die aus den Provinzen in Richtung Kabul zogen und von Leichen am Straßenrand berichtet hatten. Doch von größeren Massakern habe er bislang noch nichts gehört – auch die Taliban hätten sich verändert.

    Ein Mitarbeiter eines Schönheitssalons übermalt in Kabul ein großes Foto einer Frau an der Wand, nachdem die Taliban in die afghanische Hauptstadt eingedrungen sind.
    Ein Mitarbeiter eines Schönheitssalons übermalt in Kabul ein großes Foto einer Frau an der Wand, nachdem die Taliban in die afghanische Hauptstadt eingedrungen sind. Foto: Kyodo, dpa

    Alle hoffen, dass das große Sterben, das große Zerstören, wie es in den 90er-Jahren nach dem Abzug der Russen stattgefunden habe, diesmal ausbleibt. Das heißt nicht, dass sie die Uhren im Land nicht zurückdrehen würden. Als Gesetz dient ab sofort die Scharia, an der Universität in Herat sind keine Frauen mehr zugelassen. Das macht vor allem jenen Angst, die sich ein anderes Afghanistan erträumt hatten – sie sind es, die das Land nun fluchtartig verlassen.

    Als die Taliban in den vergangenen Wochen eine Provinz nach der anderen unter ihre Kontrolle brachten, machten sich Abertausende auf den Weg nach Kabul. Wenigstens dort sollten sie sicher sein, so ihre Hoffnung. War alles umsonst?

    Die Organisation Humedica lässt Hilfsgüter am Hindukusch verteilen

    „Die Not ist groß, in Kabul wie in anderen Teilen des Landes“, sagt Johannes Peter, Geschäftsführer von Humedica, unserer Redaktion. Die Kaufbeurer Hilfsorganisation hatte zuletzt keine eigenen Mitarbeiter in Afghanistan, jedoch über örtliche Partner Hilfsgüter an Flüchtlinge verteilen lassen. Der Einsatz ist eigentlich langfristig angelegt. Dabei geht es auch um medizinische Versorgung.

    Und nun? Es gebe erste Hinweise aus Provinzen, die schon länger in der Hand der Taliban sind, dass Hilfsorganisationen weiter Notleidende versorgen können, sagt Peter. Aber die Unsicherheit sei groß, gerade bei Patientinnen, aber auch Ärztinnen und Krankenpflegerinnen. Man müsse es so deutlich sagen: „Es herrscht Angst.“ Wie viele Afghanen bereits den Weg über die Grenze geschafft haben, in den Iran beispielsweise und dann weiter in die Türkei, auch darüber gibt es keine seriösen Angaben. Zumal sich neuerdings die Frage stellt, ob die Flüchtlinge überhaupt noch in die

    Von einem Hügel an der iranischen Grenze blickt der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar auf ein helles Band aus Beton. Bis zum Horizont zieht sich eine neu errichtete Mauer, die afghanische Flüchtlinge aus der Türkei fernhalten soll. „Wir schneiden ihnen den Weg ab“, sagt Akar. Der Minister ist mit einem Tross aus Militärs, Reporterinnen und Reportern regierungsnaher Medien an die Grenze gereist, um seinen Landsleuten zu zeigen, dass die Regierung auf den Unmut der Wählerschaft über die steigende Zahl von Flüchtlingen aus Afghanistan reagiert.

    Die Mauer soll Entschlossenheit demonstrieren. Drei Meter hoch, 2,70 Meter breit und sieben Tonnen schwer sind die stacheldrahtbewehrten Betonmodule, die derzeit an der türkisch-iranischen Grenze aufgestellt werden. Ein vier Meter tiefer Graben soll es den Flüchtlingen zusätzlich erschweren, über die Grenze zu kommen. Wachtürme, Wärmebildkameras und Aufklärungsdrohnen gehören ebenso zum Grenzregime. Sollten Flüchtlinge doch einmal die Mauer überwinden, warten auf der türkischen SeiteMilitär- und Polizeikräfte darauf, sie abzufangen. Knapp 160 Kilometer lang ist die Mauer schon. Nun soll sie zügig auf 300 Kilometer erweitert werden.

    Die Türkei will mit einer Mauer Flüchtlinge aus Afghanistan zurückhalten

    Seit fünf Jahren baut die Türkei außerdem an ihrer Grenze zu Syrien an einer Mauer, die sich fast entlang der gesamten Grenze von 900 Kilometern erstreckt. Auch an der Grenze zum Irak hat der Mauerbau begonnen. Die Türkei schottet sich nach Süden und Osten ab.

    An der iranischen Grenze haben türkische Truppen nach Angaben von Akar seit Jahresbeginn rund 62.000 Flüchtlinge aufgehalten und zurückgeschickt. Auf die Türkei rolle über den Iran eine „ständig wachsende afghanische Flüchtlingswelle“ zu, sagte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende.

    Flüchtlinge überqueren einen Grenzübergang nach Pakistan. Ein Sonderflug der nationalen pakistanischen Fluggesellschaft PIA ist mit 329 Passagieren aus Kabul in Islamabad eingetroffen.
    Flüchtlinge überqueren einen Grenzübergang nach Pakistan. Ein Sonderflug der nationalen pakistanischen Fluggesellschaft PIA ist mit 329 Passagieren aus Kabul in Islamabad eingetroffen. Foto: AP, dpa

    Ein paar Tage zuvor hatte sich das noch anders angehört. Von einer Flüchtlingswelle aus Afghanistan könne keine Rede sein, sagte Erdogan da. Dabei melden regierungsunabhängige Medien seit Wochen die Ankunft von täglich hunderten Flüchtlingen, die wegen des Vormarsches der Taliban über den Iran nach Westen fliehen. Die Opposition wirft Erdogans Regierung vor, in der Flüchtlingspolitik die türkischen Interessen zu verraten.

    In der Bevölkerung treffen Erdogans Gegner damit einen Nerv. Nach der Aufnahme von 3,6 Millionen Menschen aus Syrien und schätzungsweise einer halben Million aus Afghanistan wollen viele Türkinnen und Türken nicht noch mehr Flüchtlinge in ihrem Land. Angesichts dieser Stimmungslage hat sich Erdogan offenbar zum Kurswechsel in der Flüchtlingsfrage entschlossen. Akars Besuch an der Grenze und die Bilder von der neuen Mauer gehören zu diesem Wendemanöver.

    Allerdings ist ungewiss, ob die neue Mauer an der Grenze zum Iran das bringt, was Erdogan verspricht. Selbst wenn die 300 Kilometer fertig sind, gibt es immer noch etliche Grenzabschnitte ohne Sicherung. Die Grenze ist 530 Kilometer lang. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass Flüchtlinge und Schlepper meistens Wege finden, Grenzabsperrungen zu überwinden. In der Panik gibt es schließlich keine Hemmschwelle.

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