„Flieht nicht“, riefen in Asadabad in der Provinz Kunar wütende Einwohner den Soldaten zu – und bewarfen sie mit Steinen. Die afghanischen Truppen hatten vor dem Einmarsch der Taliban mit ihren Gewehren nur ein paar Mal in die Luft geschossen und waren dann geflohen. In der Stadt Ghazni überreichte der Gouverneur einen Blumenstrauß an die Aufständischen – und räumte sein Büro. Binnen weniger Tage ist ganz Afghanistan praktisch kampflos an die Taliban gefallen. In vielen Landesteilen ergab sich die über fast zwei Jahrzehnte mit Milliarden US-Dollar finanzierte und am Leben gehaltene Armee den Aufständischen ohne Gegenwehr. Erst Panik, dann Geisterstille – die Hauptstadt Kabul erlebte einen Tag wie auf der Achterbahn. Nur wenige Stunden nach der Flucht des afghanischen Präsidenten Aschraf Ghani haben Kämpfer der militant-islamistischen Taliban am Sonntag den Präsidentenpalast eingenommen. Umgeben von Bewaffneten wandten sich Führer der Gruppe an Journalisten, wie am Sonntagabend auf Fernsehbildern zu sehen war. Am Hindukusch beginnt eine neue, ungewisse Zukunft.
Taliban vor Kabuls Toren: Erst herrschte Panik, dann gespenstische Stille
Ungläubig hatten die USA und der Westen verfolgt, wie Provinzen und Städte Afghanistans nacheinander wie Dominosteine fielen. Bis zum Sonntagmorgen lag die bange Frage in der Luft, ob die Taliban Kabul mit Gewalt einnehmen wollten. Blutige Straßenkämpfe in der Vier-Millionen-Stadt hätten wohl zu einer humanitären Katastrophe geführt.
Die Nachricht, dass die Taliban vor den Toren Kabuls stehen, hatte zuerst für Panik und ein Verkehrschaos gesorgt. Viele Menschen eilten nach Hause, um Dokumente zu vernichten – aus Sorge, sie könnten ihnen Nachteile bei den Taliban einbringen. Andere versuchten, ihre Ersparnisse an Bankschaltern zu holen. Vor einem Brautkleidergeschäft, wo glückliche Frauengesichter von Plakaten lächelten, tünchten Arbeiter alles weiß. Derweil verließen inhaftierte Taliban-Kämpfer frohen Mutes das Zentralgefängnis, nachdem ihnen Wächter die Türen geöffnet hatten. Dann wird es gespenstisch still in der Stadt.
Zurücktreten wollte er nicht: Präsident Ashraf Ghani floh vor den Taliban
Präsident Ashraf Ghani hatte sich noch am Samstag geweigert zurückzutreten, inzwischen hat er das Land verlassen. Dem 72-jährigen Ökonomen – 2014 erstmals zum Präsidenten gewählt – war es nicht gelungen, seine Anti-Taliban-Koalition aus Milizenführern und Regionalfürsten zusammenzuhalten – in einem Land, in dem Stammeszugehörigkeiten und regionale Loyalitäten die entscheidende Rolle spielen. Mit eigenwilligen Personalentscheidungen hatte Ghani die Sympathien verspielt. Hingegen konnten die Taliban – ebenfalls ein lockerer Zusammenschluss lokaler Kommandanten mit unterschiedlichsten Interessen – ihre Leute bei der Stange halten.
So siegte am Ende der Opportunismus. Die 300.000 Mann starke Armee machte von Beginn der Taliban-Offensive an keine Anstalten zur Gegenwehr. Sie ergab sich lieber kampflos, als für die Regierung zu kämpfen. Widerstand schworen alleine jene alten Milizenführer, die in den 1980er und 1990er Jahren gegen die Taliban ins Feld gezogen waren – bis auch ihre Front bröckelte.
Welche Richtung wird Afghanistan nun einschlagen? Das Schreckensregime der Taliban in den 1990er Jahren ist für viele noch in traumatischer Erinnerung. Frauen und Mädchen wurden damals ins Haus verbannt, Musik und Tanz verboten und Gegner des Regimes umgebracht. Öffentliche Hinrichtungen gehörten zum Alltag. Mit dem Abzug der USA und der Nato vom Hindukusch dürften es nun andere regionale Mächte, etwa China und Russland, sein, die Einfluss auf Afghanistan ausüben werden. (Agnes Tandler mit dpa)