Es ist ein Einsatz, der in die deutsche Geschichte eingehen wird. 20 Jahre war die Bundeswehr in Afghanistan. In dieser Woche haben die letzten Soldaten das Land am Hindukusch verlassen – vom Frieden ist die Region dennoch weit entfernt. Inzwischen haben auch andere Nato-Staaten ihre Stützpunkte geräumt, am Freitag wurde der Luftwaffenstützpunkt Bagram geschlossen. Offiziell hatten die USA angekündigt, bis spätestens 11. September alle Truppen abzuziehen. Allerdings gibt es Berichte, dass der Rückzug bereits rund um den 4. Juli, den Nationalfeiertag in den USA, abgeschlossen werden könnte. Doch wie ist der Einsatz rückblickend zu bewerten? Welche Lehren müssen aus ihm gezogen werden?
1. Die Mär vom edlen Krieg
"Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt", hatte SPD-Verteidigungsminister Peter Struck 2002 erklärt. "Die neuen Risiken kennen keine Grenzen." Im Januar 2002 trafen die ersten deutschen Kräfte in der Hauptstadt Kabul ein. Von Mädchen-Schulen war die Rede und von Soldaten, die Brunnen bohren. Erst nach und nach konnte sich die Bundesregierung durchringen, das, was in Afghanistan vor sich ging, auch tatsächlich beim Namen zu nennen: Es war ein Krieg, in den die deutschen Soldaten verwickelt waren. "Ich will ganz offen sein. In Teilen Afghanistans gibt es fraglos kriegsähnliche Zustände", sagte der Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg im November 2009 – selbst das war noch maßlos untertrieben. Wirklich lösen wollte sich die Politik nie von ihrer Deutung, dass es in Afghanistan nicht nur um einen Kampf gegen Terroristen ging, sondern um ein höheres, ein edleres Ziel. Deutschland mit seiner kritischen Öffentlichkeit konnte mit dieser Erzählung besser leben. Bilder wurden gezeigt, wie Afghanen die Frauen und Männer der Bundeswehr freudig begrüßten – als Retter, als Befreier.
Auch heute noch spricht die Politik von den Fortschritten für Frauen und zivilen Errungenschaften. Es ist zumindest zum Teil Selbstbetrug. Am Ende galten auch die Deutschen als westliche Besatzer. Sie wurden in Hinterhalte gelockt, bunkerten sich schließlich in ihren Camps ein. Einen demokratischen Staat nach westlichen Vorbild konnte die Bundeswehr in Afghanistan nicht aufbauen, zu grundlegend sind die Unterschiede, zu gewaltig die Kluft der Traditionen. Auch deshalb gilt der Einsatz 20 Jahre nach seinem Beginn quasi als gescheitert. Die Bundeswehr verlässt ein Land, dessen Strukturen zerbrechlich sind wie Glas. Nach einer Statistik der New York Times sind im Juni im Schnitt täglich 25 Sicherheitskräfte der Regierung ums Leben gekommen. Nach UN-Daten mussten zwischen Abzugsbeginn Anfang Mai und Mitte Juni fast 55.000 Menschen innerhalb Afghanistans vor den Kämpfen aus ihren Dörfern und Städten fliehen, doppelt so viele, wie im Vorjahreszeitraum.
2. Die Bundeswehr lernte das Kämpfen – und das Sterben
"Die Bundeswehr ist am Hindukusch erwachsen geworden. Erstmals in ihrer Geschichte war sie damit konfrontiert, den Krieg nicht nur zu spielen, sondern auch zu führen", schreibt Militärhistoriker Sönke Neitzel im Buch "Deutsche Krieger". Es ist eine bittere, aber wahre Diagnose. Afghanistan machte die Bundeswehr, die bis in die 90er Jahre ganz auf Landesverteidigung ausgerichtet war, zu einer Einsatzarmee. 59 deutsche Soldaten verloren in Afghanistan in den vergangenen Jahren ihr Leben, der erste, der im Gefecht fiel, war der 21-Jährige Hauptgefreite Sergej Motz. Er war am 29. April 2009 mit seinem Erkundungstrupp in der Nähe von Kundus in einen Hinterhalt geraten, sein Fahrzeug wurde von einer Panzerfaust getroffen. Sein Tod ist bis heute ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte der Bundeswehr. Motz war der erste deutsche Soldat seit dem Zweiten Weltkrieg, der im Gefecht fiel.
Viele andere wurden körperlich, aber auch psychisch schwer verwundet. Die deutsche Öffentlichkeit musste eine neue Abkürzung lernen: PTBS – posttraumatische Belastungsstörung. Im Jahr 2020 registrierte die Bundeswehr trotz weniger Auslandseinsätzen 213 Neuerkrankte gegenüber 183 im Jahr 2019. Matthias Frank vom Sanitätsdienst der Bundeswehr sieht einen Grund dafür darin, dass Betroffene sich erst nach Jahren des Leidens Hilfe holten. "Viele denken, ihre Beschwerden gehen von allein wieder weg und kommen erst, wenn der Druck von der Familie zu groß geworden ist." Vor allem die Folgen des Afghanistan-Kampfeinsatzes von 2001 bis 2015 wirken immer noch nach. "Das ist wie eine Bugwelle, die wir vor uns herschieben." Noch höher ist der Blutzoll der inzwischen kriegsmüden Amerikaner. Seit 2001 starben nach Angaben des Pentagons in Afghanistan mehr als 1800 US-Soldaten bei Anschlägen oder Gefechten. Wie viele Taliban umkamen, ist unbekannt. Hinzu kam: Auf einmal wurde die Bundeswehr selbst als "Aggressor" eingestuft: Bei einem Angriff auf zwei von den Taliban gekaperte Tanklaster durch US-amerikanische Kampfflugzeuge in der Nacht zum 4. September 2009 waren etwa 100 Menschen ums Leben gekommen, darunter zahlreiche Zivilisten. Den Bombenabwurf befohlen hatte der damalige Bundeswehr-Oberst Georg Klein.
3. Waffen und Soldaten alleine reichen nicht
Mehr als zwölf Milliarden Euro kostete der Einsatz in Afghanistan alleine für Deutschland. 160.000 Bundeswehr-Soldaten wurden dort eingesetzt, in der Regel für je vier bis sechs Monate. Es war der verlustreichste und teuerste Auslandseinsatz in der Geschichte der Bundeswehr. Wie kann das sein, dass ausgerechnet ein Haufen selbsternannter Gotteskrieger eine starke Armee in die Knie zwingen konnte? Kriege werden heute nicht mehr Mann gegen Mann auf dem Schlachtfeld geführt, sie sind asymmetrisch geworden. Guerilla-Armeen wie die Taliban nehmen einen hohen Blutzoll in Kauf. Sie überraschen mit Terror-Anschlägen, versetzen so die eigene Bevölkerung in Angst und Schrecken. Sie nehmen ganz bewusst den Tod der Zivilbevölkerung in Kauf, um Hass auf die "Angreifer" zu schüren. Sie nutzen die Geografie ihrer Heimat – der Hindukusch wurde für westliche Armeen zum undurchdringlichen Labyrinth. Dazu benötigen sie keine Waffengleichheit mit ihren Feinden.
Im Grunde war schon der Auslöser des Afghanistan-Krieges asymmetrisch: Mit ein paar Teppichmessern zwangen die Terroristen am 11. September 2001 die Supermacht USA in die Knie. Auch heute werden praktisch täglich Sicherheitskräfte, afghanische Regierungsmitarbeiter oder Aktivisten getötet. An ihre Autos werden heimlich Magnetbomben geheftet oder sie werden kurzerhand auf offener Straße erschossen. Demokratien wie Deutschland oder die USA aber sind an ihre eigenen Regeln gebunden – und zwar politisch wie moralisch. Deshalb sind es heute vor allem Länder, die sich nicht um Konventionen oder Menschenrechte scheren, die noch "erfolgreich" Kriege führen wie etwa in Syrien.
4. Die Taliban sind die wahren Gewinner
Kaum, dass sich die deutschen Soldaten den letzten Staub von ihren Uniformen geklopft hatten, jubelten die Taliban auch schon. Ihre Erzählung: Erst haben sie die Sowjets vertrieben, nun die Amerikaner und ihre Verbündeten. Kaum vorstellbar, dass sie sich nun einer Regierung unterordnen, die sie nicht anerkennen. Ihr jahrzehntelanger Kampf soll sich schließlich auszahlen – und tatsächlich könnten sie zum Gewinner des Abzugs der internationalen Truppen werden. Denn sie wissen: Die USA werden künftig die Finger von Afghanistan lassen und damit haben sie freie Bahn.
Seit Anfang Mai haben die Taliban in einer Blitzoffensive rund 90 der 400 Bezirke im Land neu erobert. Die meisten Experten schätzen sogar, dass die Islamisten mittlerweile rund die Hälfte des Landes kontrollieren. Im Internet kursieren Bilder, auf denen Kämpfer vor den Stadttoren mehrerer Provinzhauptstädte posieren. Auch an Kabul rücken sie heran. Damit schwindet die Hoffnung auf eine politische Lösung des Konflikts.
5. Die Lehren für Mali
Es ist der aktuell einzige wirklich große Einsatz der Bundeswehr: Derzeit sind rund deutsche 900 Soldaten an der UN-Mission Minusma in Mali beteiligt. Die Obergrenze liegt bei 1100 Männern und Frauen aus Deutschland. Sie sollen den Friedensprozess in dem westafrikanischen Land unterstützen. Dort sind seit Jahren islamistische Terrorgruppen aktiv. Auch organisierte Kriminalität und grenzübergreifender Schmuggel sind ein Problem in der Region, über die Migrationsrouten nach Nordafrika und weiter Richtung Europa laufen. Doch vor ambitionierten Verspechen, wie sie in Afghanistan gegeben werden, hütet sich die Bundesregierung längst.
Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer machte in dieser Woche deutlich, dass es der Einsatz am Hindukusch war, der sie gelehrt habe, beim Blick auf andere internationale Einsätze sehr genau darüber nachzudenken, was realistische politische Ziele seien. "Das ist für mich eine der Lehren, die ich ziehe und die wir vor allen Dingen mit Blick auf Mali auch beachten müssen", sagte die Ministerin. Es sei ein Fehler gewesen, dass der Eindruck vermittelt worden sei, man könne aus Afghanistan schnell einen Staat nach europäischem Vorbild machen. Die Ausbildungsmission, die die Bundeswehr leiste, hänge davon ab, ob die politische Situation in Mali stabiler werde. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir am Ende Soldaten ausbilden, die dann immer zum Werkzeug gemacht werden, um zivile Strukturen im Rahmen von Staatsumstürzen zu bekämpfen." (mit dpa)