Der letzte Akt vollzog sich bemerkenswert geräuschlos und präzise. Es war eine Minute vor Anbruch des vereinbarten Stichtags in Kabul, als in der Nacht zum Dienstag ein graues Militärtransportflugzeug des Typs C-17 mit den letzten amerikanischen Soldaten vom Hamid Karzai Airport abhob. Zuvor hatte es Raketenbeschuss gegeben. Doch zahlreiche amerikanische Bomber, Kampfhubschrauber und Drohnen sicherten aus der Luft den reibungslosen Abschluss einer hochgefährlichen Mission.
„Ich bin hier, um die Vollendung unseres Abzugs aus Afghanistan zu verkünden“, erklärte kurz darauf der zuständige US-Kommandeur General Kenneth McKenzie in einer Videoschalte mit Journalisten im Pentagon. Am Boden in Kabul feuerten die militant-islamistischen Taliban Feuerwerk und Freudenschüsse ab. „Dieser Sieg gehört uns allen“, verkündete ihr Sprecher Sabiullah Mudschahid und versprach: „Die Menschen sollen sich keine Sorgen machen.“ In einem Video war zu sehen, wie ein Reporter der Los Angeles Times mit mehreren Kämpfern einer Spezialeinheit der Taliban in einen Flugzeughangar im militärischen Teil des Flughafens von Kabul lief. Die Männer inspizierten mehrere Chinook-Helikopter – sie wirken wie US-Soldaten. Es sind aber Taliban, die auf ihrem militärischen Eroberungszug quer durch das Land viel Beute gemacht haben – so viel, dass sie nun von ihrer Ausrüstung her kaum von US-Soldaten zu unterscheiden sind. Anas Hakkani, ein hochrangiger Islamist, erklärte: „Wir schreiben wieder Geschichte. Die 20-jährige Besetzung Afghanistans durch die USA und die Nato endete heute Abend. Gott ist groß.“ Er sei sehr glücklich, nach 20 Jahren des Dschihad, auf dessen Opfer und Härten er stolz sei, nun diese historischen Momente zu sehen.
2461 US-Soldaten verloren in Afghanistan ihr Leben
Für die Weltmacht ist das eine schwere Demütigung: In Afghanistan ist nun wieder jene Gruppe an der Macht, die Ex-Präsident George W. Bush mit seinem Marschbefehl nach den Terrorangriffen vom 11. September eigentlich ablösen wollte. Seither sind mehr als 100.000 Menschen – darunter 2461 US-Soldaten – ums Leben gekommen. Die letzten 13 GIs starben bei einem Selbstmordattentat der islamistischen Terrorgruppe IS am vorigen Donnerstag.
Nach dem rasanten Sturz der bisherigen afghanischen Regierung unter dem korrupten Präsidenten Aschraf Ghani hatte US-Präsident Joe Biden vor zweieinhalb Wochen eine chaotische Rückzugsaktion eingeleitet. Zwar konnte in dieser Zeit eine beachtliche Luftbrücke aufgebaut werden, über die Amerikaner und Verbündete insgesamt mehr als 122.000 Menschen ausflogen. Doch zahlreiche Ortskräfte, die nun Rache und Vergeltung der Taliban fürchten müssen, blieben zurück. Amerikanische Nichtregierungsorganisationen schätzen, dass allein etwa 60.000 Übersetzer, Fahrer und sonstige lokale Mitarbeiter des US-Militärs, des Geheimdienstes CIA und der Botschaft nicht evakuiert werden konnten.
Bis zu 200 Amerikaner sind noch in Afghanistan
„Wir haben nicht alle herausbekommen, die wir herausbekommen wollten“, gestand General McKenzie. Besonders schwerwiegend ist, dass nach Einschätzung des US-Außenministeriums bis 200 Amerikaner zurückbleiben mussten, die das Land verlassen möchten. Biden hatte versprochen, alle Staatsbürger zu evakuieren. Daran wolle man festhalten, versicherte Außenminister Antony Blinken: „Unser Versprechen hat kein Verfallsdatum.“ Allerdings werde dies auf anderem Weg geschehen: „Die Militärmission ist beendet. Eine neue diplomatische Mission hat begonnen.“
Innenpolitisch gerät Präsident Biden damit weiter unter Druck. „Es ist moralisch unverzeihlich, dass Präsident Biden Amerikaner in Afghanistan aufgegeben hat“, sagte der republikanische Abgeordnete Darin LaHood. Zahlreiche Republikaner twitterten ähnliche Botschaften. In Windeseile werde gerade eine Dolchstoßlegende fabriziert, kommentierte der renommierte Publizist David Frum: „Erstaunlich ist vor allem, dass die wichtigsten Mythen-Erzähler jubelten, als Präsident Trump versprach, das zu tun, was Präsident Biden gemacht hat.“
Doch die Biden-Regierung befindet sich nun tatsächlich in einer schwierigen Lage. Bei der Evakuierung der verbliebenen Landsleute ist Washington nun auf die Taliban angewiesen. Das Selbstmordattentat vom vorigen Donnerstag zeigt jedoch, wie fragil die Sicherheitslage vor Ort ist. Beobachter in Washington erwarten Flügelkämpfe zwischen gemäßigten und extremistischen Taliban. „Die Militärmission ist vorbei. Aber die Sorgen sind zurück“, beschreibt das Wall Street Journal knapp die Lage.