Das Memorandum des ehemaligen Nuntius in den USA, Erzbischof Carlo Maria Viganò, ist nicht nur eine Anklageschrift gegen Papst Franziskus, sondern ein Misstrauensvotum gegen die vatikanische Nomenklatura insgesamt. Gewiss ist das vor gut einer Woche veröffentlichte elfseitige Dokument mit Fingerspitzen anzufassen. Schließlich ist die Stoßrichtung nicht zu übersehen, dass hier auch innenpolitische Rechnungen zwischen einem reaktionären und einem eher liberalen Flügel mit dem Papst an der Spitze beglichen werden sollen. Auch der ehemalige Nuntius selbst, der 2011 schon beim ersten Vatileaks-Skandal Details aus dem Innenleben des Vatikans offenlegte, ist eine nur schwer zu dechiffrierende Figur.
Was sich aus der Akte Viganò ergibt, ist ein Rundumschlag gegen das Führungspersonal im Vatikan. Und das unabhängig von der vermeintlichen Couleur der Protagonisten. Dem Papst lastet der Ex-Nuntius an, seit Jahren vom kriminellen Vorleben des ehemaligen Washingtoner Erzbischofs Theodore McCarrick gewusst zu haben, der Seminaristen sexuell missbraucht haben soll. Nicht zuletzt aus Dankbarkeit habe Franziskus McCarrick aber entgegen vorheriger Anweisungen durch Papst Benedikt XVI. frei walten lassen. Der Papst solle zurücktreten, fordert Viganò.
Während Benedikt dem Kardinal ein Leben in Zurückgezogenheit auferlegte, hob Franziskus diese Order laut Viganò de facto auf. Der ehemalige Vatikanbotschafter behauptet, McCarrick habe 2013 im Hintergrund eine Rolle bei der Wahl Bergoglios zum Papst gespielt. Erst im Juli entließ Franziskus McCarrick aus dem Kardinalskollegium. Etwa zeitgleich veröffentlichte eine Jury im US-Bundesstaat Pennsylvania einen Bericht über massenhaften sexuellen Missbrauch in sechs Diözesen. Seither tobt auch in der US-Kirche ein Machtkampf. Dabei sieht es derzeit eher nicht danach aus, dass die betroffenen Kirchenführer Verantwortung für die Vertuschung dieser Verbrechen übernehmen wollen.
Jahrelange Vertuschung
Dieser Eindruck drängt sich auch bei einer der größten Herausforderungen zum Thema Missbrauch auf: der kirchenrechtlichen Verfolgung von Bischöfen, die Missbrauchstäter gedeckt haben. Denn die jahrzehntelange Vertuschung war nur möglich, weil den Vorgesetzten das Heil der Institution wichtiger war als das der Opfer. Diese Haltung scheint weiterhin ein Kernproblem der Kirche bei der Aufarbeitung zu sein. Auf den Vorschlag der von ihm eingesetzten Kommission zum Schutz von Minderjährigen im Jahr 2015 kündigte der Papst die Einrichtung eines Tribunals für vertuschende Bischöfe an, das bis heute nicht besteht. Stattdessen ermächtigte Franziskus ein Jahr später die zuständigen Kongregationen zu internen Ermittlungen und Entlassungen.
Während des Weltfamilientages in Dublin Ende August wurde Franziskus bei einem Treffen mit Missbrauchsbetroffenen auf diesen Umstand angesprochen. Die Irin Marie Collins, selbst Missbrauchsopfer und 2017 frustriert aus der Papst-Kommission zum Schutz von Minderjährigen zurückgetreten, wollte von ihm Genaueres wissen. Auf seiner Pressekonferenz auf dem Rückflug nach Rom am Folgetag erläuterte der Papst: Die Einrichtung eines Bischofstribunals sei „aufgrund der unterschiedlichen Kulturen der zu beurteilenden Bischöfe nicht praktikabel und nicht angebracht“.
Collins, die der Papst als „fixiert“ im Hinblick auf die Einrichtung eines Bischofstribunals bezeichnete, kritisierte daraufhin Franziskus in einem Beitrag für den National Catholic Reporter. Sie verstehe nicht, warum er unterschiedliche Kulturen als Hindernis für ein zentrales Justizorgan im Vatikan anführe. „Die Kirche sollte einen universellen Standard für alle ihre Führer haben“, schrieb Collins. „Wer oder was hat für seinen Meinungswandel gesorgt?“, fragt die Irin.
Das Viganò-Dokument, das mit einer Liste von über einem Dutzend amtierender Kirchenführer aufwartet, die ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben könnten, deutet auf eine Antwort hin: Das Führungspersonal in der Kirche würde empfindlich dezimiert, wenn sich Bischöfe unter einheitlichen und ohne Rücksicht angewendeten Voraussetzungen verantworten müssten. Das gilt auch für Papst Franziskus selbst.
Druck auf Argentiniens Justiz
EineZDFinfo-Dokumentation wies auf die problematische Vergangenheit des Papstes beim Thema hin. Im Fall des 2009 wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen zu 15 Jahren Haft verurteilten Priesters Julio Grassi in Buenos Aires gab die argentinische Bischofskonferenz eine vierbändige Studie in Auftrag, mit der Richter beeinflusst und von der Unschuld des Priesters überzeugt werden sollten. Als Auftraggeber firmierte der damalige Vorsitzende der argentinischen Bischofskonferenz und Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Bergoglio, der heutige Papst. Von den Autoren kürzlich auf diesen Vorgang angesprochen, wies Franziskus alle Verantwortung von sich.