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75 Jahre Israel: Warum Israelis 75 Jahre nach der Staatsgründung wieder um die Existenz ihres Landes fürchten

75 Jahre Israel

Warum Israelis 75 Jahre nach der Staatsgründung wieder um die Existenz ihres Landes fürchten

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    Seit Monaten wühlen die Proteste gegen eine umstrittene Justizreform Israel auf.
    Seit Monaten wühlen die Proteste gegen eine umstrittene Justizreform Israel auf. Foto: Ariel Schalit, dpa

    Als am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeit Israels ausgerufen wurde, waren viele überzeugt, dass der Staat nicht alt werden würde. Israel war von Feinden umgeben: Ägypten, Jordanien, Irak. Kaum hatte David Ben-Gurion, der erste Premier, die Gründung des jüdischen Staates proklamiert, griffen sie den neuen Nachbarn an. 1967 und 1973 musste Israel erneut ums Überleben kämpfen. Wobei allen klar war, dass nur ein Sieg den Staat rettet. 

    Die Drohungen arabischer Politiker, sie würden Israel ins Meer werfen, nahmen Israelis so ernst, dass sie vor Ausbruch des Kriegs im Jahr 1967 Massengräber aushoben. Im Gegensatz zu Europa, wo man bis zum Ukraine-Krieg die Armee vor allem als "Kostenfaktor" betrachtete, weil kein Feind auszumachen war, muss man in Israel niemandem erklären, dass das Land ohne Armee nicht lange überleben würde.

    Historiker Tom Segev hält den Palästinenserkonflikt für unlösbar

    Die Geburt Israels ist, sagt der Historiker Tom Segev, "eine der dramatischsten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts." Nach dem Holocaust, in dem von den 15 Millionen Juden sechs Millionen ermordet wurden, leben heute fast zehn Millionen Menschen in Israel, "einem mehr oder weniger demokratischen Land", so Segev. In seinem autobiografischen Buch "Jerusalem Ecke Berlin" reflektiert der Historiker, dessen Eltern aus Deutschland stammen, über sein kompliziertes Verhältnis zu Deutschen und zum Holocaust, denkt über den Zionismus und dessen Mythen nach sowie über den Krieg mit den Arabern. 

    Inzwischen scheint die Existenz Israels zwar nicht mehr gefährdet. "Aber", sagt Segev, "Probleme, die wir heute haben, gab es schon 1948." Einige wurden zwar gelöst: So hat Jerusalem mit Kairo und Amman Friedensverträge abgeschlossen, die Beziehungen zu Golfstaaten normalisiert, mit Marokko Botschafter ausgetauscht, und der Irak ist keine Gefahr mehr. Aber im Norden des Landes hat die Hisbollah hunderttausende von Raketen und Flugkörpern stationiert, die auf die Bevölkerungszentren von Haifa und Tel Aviv gerichtet sind. In Syrien nistet sich der Iran mit Statthalter-Terroristen ein, im Süden rüstet die radikal-islamische Hamas auf, und in den Städten ist jederzeit mit einem Selbstmordanschlag zu rechnen. 

    Teheran droht weiter mit der Auslöschung Israels

    In Teheran, der potenziellen Atommacht, werden weiterhin regelmäßig Vernichtungsdrohungen in Richtung Israel ausgestoßen. "Wir stehen erneut einem Feind gegenüber, der offen sagt, dass er uns zerstören will", meint Segev. Aber die Regierung habe 1967, nach dem Sechs-Tage-Krieg, einen gravierenden Fehler gemach. Die Eroberung der Westbank, die damals noch von Jordanien verwaltet wurde, war zwar fürs Überleben der Nation unerlässlich, weil sie von Osten her angegriffen wurde. Aber die Weigerung, die von Palästinensern bewohnten Gebiete noch in derselben Woche an die Araber zurückzugeben, war verhängnisvoll. Segev: "Das war der größte Fehler Israels". 

    Dabei hatte man sich vor dem Krieg bereits Gedanken darüber gemacht, was die Folgen einer Eroberung der Westbank wären. Damals ging es um Szenarien, wonach der Irak Jordanien als Plattform für einen Angriff auf Israel benutzen könnte oder der jordanische König von Palästinensern abgesetzt würde und es in der Westbank zu einem Aufstand käme. Bei seinen Recherchen stieß Segev auf ein Protokoll zum Thema "Soll Israel die Westbank erobern?", das vor dem 1967er Krieg von Militärexperten, Angehörigen des Mossad und Beamten des Außenministeriums geschrieben wurde. Es wäre nicht im Interesse Israels, dieses Gebiet zu erobern oder gar zu behalten, heißt es dort sinngemäß, weil es von einer uns gegenüber feindlich eingestellten Bevölkerung besiedelt ist.

    Israels Ministerpräsident plant eine heftig umstrittene Justizreform.
    Israels Ministerpräsident plant eine heftig umstrittene Justizreform. Foto: Haim Zach, dpa

    Der größte Fehler wurde 1967 gemacht

    Nach der Eroberung der Westbank zogen die Minister aber keine Experten zu Rat, der ihnen die Konsequenzen der Eroberung hätten aufzeigen können. Segev: "Die Regierung beschließt, die Heiligen Stätten in Jerusalem zu erobern, die hunderten von Millionen Menschen auf der ganzen Welt wichtig sind, und niemand fragt, was die Konsequenzen wären". Israels größtes Problem, der Umgang mit den Palästinensern, sei "wahrscheinlich unlösbar", meint Segev. 

    Die Palästinenser in der Westbank sind mit denjenigen im Gazastreifen verfeindet, Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas ist schwach. Und in Jerusalem sei eine Regierung an der Macht, die wenig Gutes verspreche: "In Israels Geschichte gab es nie eine Koalition, die dermaßen abhängig war von rechtsradikalen, rassistischen und antidemokratischen Parteien". Unter diesen Umständen sei lediglich ein Ziel realistisch: "Dass die Araber verstehen, dass wir hier sind, um zu bleiben". Man könne das Problem "nur managen, aber nicht lösen". Die Welt sei zwar voll von Menschen, die genau wüssten, wie man den israelisch-palästinensischen Konflikt lösen könne. Aber für Segev ist es klar: "Wir stecken in einer Sackgasse". 

    Die Armee und eine Innovationskultur sind Säulen des Landes

    Aus der Not hat Israel stets eine Tugend gemacht. Die Sicherung der Unabhängigkeit setze voraus, dass Technologie und Waffen im Lande entwickelt werden. Willkommener Nebeneffekt: Die Produkte der Rüstungsindustrie sind weltweit gefragt – weil sie im Krieg getestet wurden. Weil es gegen Osten keine natürlichen Grenzen hat, musste das Land einen Schild bauen, der aus dem intellektuellen Potenzial seiner Bürger besteht. Die Verteidigungsindustrie wurde zu einer der wichtigsten Grundlagen für die Start-up-Wirtschaft, deren "Silicon Wadi" inzwischen Unternehmer und Investoren aus der ganzen Welt anzieht. 

    Erst in der vergangenen Woche wurden wieder Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert.
    Erst in der vergangenen Woche wurden wieder Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert. Foto: Hatem Moussa, dpa

    Wirtschaftlich ist Israel deshalb ebenfalls eine Erfolgsstory sondergleichen. Für die Pioniere galt die Devise, dass es "keinen Platz für kleine Träume gibt", wie Shimon Peres in seiner Autobiografie schreibt. 75 Jahre nach der Gründung des Staates haben Israeli einen Lebensstandard, der zu den höchsten der westlichen Welt gehört. Auf einer vom Economist für das Jahr 2022 erstellten Rangliste ist Israel als viertbeste Volkswirtschaft unter den OECD-Ländern aufgeführt.

    Viele Israelis haben sich einen Zweitpass besorgt

    Dabei konnten in den Gründerjahren nur Fantasten hoffen, Sumpfgebiete urbar zu machen, in der Wüste Negev Gemüse und Früchte zu produzieren oder das Ödland blühen zu lassen, da es nicht einmal genügend Wasser für die Bevölkerung gab. Und um zu glauben, dass im damals zurückgebliebenen, schwierigen Nahen Osten eine ruhmreiche Zukunft möglich sein werde: Dazu brauchte es eine gehörige Portion Optimismus.

    Jetzt aber drohe, so Segev, eine neue Gefahr. Seit Januar protestieren hunderttausende von Bürgern gegen die Absicht der Regierung, das Regierungssystem umzukrempeln und die Justiz zu politisieren. Sie befürchten eine Abschaffung der Demokratie und einen Machtzuwachs der Orthodoxie. Segev befürchtet eine "Neuformulierung der Grundwerte", die Israel bisher ausgemacht haben. Trotz der starken Armee, der erfolgreichen Start-up-Szene und der blühenden Kultur fürchten Israelis um die Existenz des Landes. An die zehn Prozent der Bürger haben sich einen Zweitpass besorgt. Sie betrachten ihn als Lebensversicherung.

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