Karrieren in der Politik sind nicht vorhersehbar, sie hängen von Wahlergebnissen ab, von Zufällen oder wie im Fall von Joachim Gauck von den Rücktritten anderer. Damit er im reifen Alter von 72 Jahren an ihre Stelle rücken konnte, mussten gleich zwei Bundespräsidenten zurücktreten: Erst Horst Köhler und nach ihm Christian Wulff. Der eine warf aus persönlichem Frust hin, der andere hatte Dienstliches und Privates nicht sauber genug getrennt – bei Gauck dagegen, der unter anderen Umständen nie Präsident geworden wäre, fügt sich eines zum anderen: Eine gewisse Demut vor dem Amt und das Selbstbewusstsein, um es auszufüllen.
Joachim Gauck feiert seinen 75. Geburtstag
Am Samstag wird der Gauck verurteilt Begriff der «Lügenpresse»Bundespräsidentehemalige Bürgerrechtler 75 Jahre alt – und ist damit das älteste Staatsoberhaupt seit Theodor Heuss. Um die Frage, ob er mit einer zweiten Amtszeit liebäugelt, macht er zwar einen großen diplomatischen Bogen, zuzutrauen aber wäre es ihm. Gauck, nicht uneitel, füllt das höchste Amt der Republik nicht nur aus, er genießt sein Präsident-Sein auch. Ob die Augsburger Domsingknaben zum Weihnachtskonzert ins Bellevue kommen, Islamwissenschaftler zum Anti-Gewalt-Dialog oder ob er selbst am Dienstag zum 70. Jahrestag der Befreiung nach Auschwitz reist: Gauck ist kein Mann, der ein Amt einfach nur so führt und sein Land souverän repräsentiert. Er ist, hier wie dort, mit Empathie bei der Sache, ein guter Zuhörer und ein glänzender Redner zugleich, der sich, wo er es für nötig hält, auch mal ins politische Tagesgeschäft einmischt. Als in Thüringen ein Linker in die Staatskanzlei einzog, fühlte er sich jedenfalls herausgefordert: „Menschen, die die DDR erlebt haben und in meinem Alter sind, die müssen sich schon ganz schön anstrengen, um dies zu akzeptieren.“
Nach einigen Anlaufschwierigkeiten hat er auch mit der Kanzlerin seinen Frieden gemacht, die von der FDP regelrecht dazu gezwungen werden musste, Gauck nach seiner gescheiterten, damals noch von der SPD und den Grünen organisierten Kandidatur gegen Horst Köhler für die Nachfolge von Wulff zu nominieren. Die Deutschen danken ihr dies inzwischen mit hohen Zustimmungswerten für ihren Präsidenten, obwohl der ihnen auch unpopuläre Wahrheiten nicht erspart.
Tritt Bundespräsident Gauck zu einer zweiten Amtszeit an?
Nach seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz vor einem Jahr, zum Beispiel, wurde Gauck von einem Abgeordneten der Linken als „widerlicher Kriegshetzer“ kritisiert, weil er verlangt hatte, ein Land mit dem politischen und ökonomischen Gewicht der Bundesrepublik müsse in internationalen Krisen mehr Verantwortung übernehmen – notfalls auch militärisch.
Wenige Monate später durfte Gauck sich bereits bestätigt fühlen. Mit den Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak und den diplomatischen Bemühungen von Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine-Krise hatte die Wirklichkeit die Bundesregierung schneller als erwartet eingeholt. „Unglücklicherweise“, sagt Gauck heute, „hat die Welt die deutsche Politik so herausgefordert, dass sie gar nicht anders konnte, als zu ihrer gewachsenen Verantwortung zu stehen.“
Den russischen Präsidenten Wladimir Putin wird er am Dienstag bei der Gedenkfeier in Auschwitz voraussichtlich nicht treffen – und Deutschland damit einen diplomatischen Drahtseilakt ersparen. Deutlicher als viele andere hat der Bundespräsident am 75. Jahrestag des deutschen Angriffes auf Polen am 1. September mit Putin und dessen „Machtstreben“ abgerechnet. „Wir wollten daran glauben, dass auch Russland, das Land von Tolstoi und Dostojewski, Teil des gemeinsamen Europa werden könnte“, sagte er da. „Diese Partnerschaft ist von Russland de facto aufgekündigt worden.“
Zuvor hatte Gauck, dessen Vater lange in sowjetischer Lagerhaft saß, bereits auf eine Reise zu den Olympischen Winterspielen in Sotschi verzichtet. Auch die Pläne für einen Staatsbesuch in Moskau liegen seit Monaten auf Eis – aber wer weiß, vielleicht ist das ja ein Thema für eine zweite Amtszeit…