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Europawahl 2024: Darum ist die AfD im Osten besonders stark

Europawahl 2024

Warum der Osten anders wählt

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    Im Osten die Nummer 1 - der Erfolg der AfD bei der Europawahl erschüttert das Parteiensystem.  Die Parteichefs Tino Chrupalla und Alice Weidel im Freudentaumel.
    Im Osten die Nummer 1 - der Erfolg der AfD bei der Europawahl erschüttert das Parteiensystem. Die Parteichefs Tino Chrupalla und Alice Weidel im Freudentaumel. Foto: Jörg Carstensen, dpa

    Deutschland zweigeteilt, als habe es die Wiedervereinigung nicht gegeben. Auf der Karte ein schwarzer Westen und ein blauer Osten. Während auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik die diesen Staat verkörpernde CDU bis heute dominiert, ist es auf dem Gebiet der verschwundenen DDR die eben diesen Staat herausfordernde AfD. Einigkeit und Recht und Freiheit? „Vollende die Wende“, ließ die AfD vor wenigen Jahren auf ihre Plakate drucken. Und wieder die drängenden Fragen: Wie kommt das? Woher rührt das? Was ist da los? 

    Der Soziologe Armin Nassehi versucht es mit einem bitteren Witz. „In O-Deutschland kann man sehen, dass Putin auch demokratische Wahlen gewinnen kann“, schreibt er auf der Kurznachrichtenplattform X. Es stimmt, im Osten sind mehr Menschen gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Das Verständnis für die einstige Führungsmacht Russland ist ausgeprägter. AfD und auch das noch junge Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sind für einen Stopp der Waffenlieferungen an Kiew. Beide Parteien vereinen im Osten zusammen 43 Prozent der Stimmen auf sich, knapp 30 die AfD, das Wagenknecht-Lager aus dem Stand beinahe 14 Prozent. Im Westen mit seiner Grundausrichtung an Amerika genießt die Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Geld stärkeren Rückhalt. 

    Europawahl-Ergebnis: Schuldfrage ist in der Ost-West-Debatte falsch

    Nassehi ist Professor in München. Sein Kollege Steffan Mau ist Professor in Berlin. Er stammt aus Rostock und ist in der Platte großgeworden. Mau versucht es nicht mit einem Witz, sondern mit einem Buch, das passend zur Lage in ein paar Tagen im Suhrkamp-Verlag erscheint. Es trägt den Titel: Ungleich vereint. Gleich in der Einleitung heißt es darin: „Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg“. Es scheint, als wandele die deutsche Gesellschaft seit der Wiedervereinigung auf eben diesem Holzweg. 

    Der Aufbau Ost hatte das Ziel, den Osten dem Westen gleich zu machen. Doch die Angleichung ist zum Stehen gekommen.
    Der Aufbau Ost hatte das Ziel, den Osten dem Westen gleich zu machen. Doch die Angleichung ist zum Stehen gekommen. Foto: Jens Wolf, dpa

    Vorgeworfen wird den Ostdeutschen Undankbarkeit, Jammerei, Demokratiedefizit und Ausländerfeindlichkeit. Den Westdeutschen wird Arroganz, Desinteresse und eine Abzockementalität unterstellt. Die Quintessenz Maus: Es wird keine Einheit in dem Sinne geben, dass Ostdeutschland wie der Westen wird. Der Soziologe fragt zum Beispiel, ob das hinsichtlich der Mieten (hoch), der Kindergartenplätze (zu wenige) oder der Schulqualität (na ja) überhaupt erstrebenswert wäre. „In Ostdeutschland hat sich eine eigene politische Kultur ausgebildet, die noch eine lange Zeit bestehen wird, unabhängig davon, was sich die Politik wünscht.“

    Die Ursachen, warum die Ostdeutschen anders ticken und anders wählen, sind derer viele. Sie sind soziologisch untermauert, nicht nur von Steffen Mau, sondern durch eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten. Das Erbe der DDR zeigt sich beispielsweise in der Verbundenheit zu Russland und der Jahrzehnte fehlenden Zuwanderung von Ausländern, woraus die stärkere Ablehnung von Migranten resultiert. Die ökonomischen Abbruchjahre in den 1990-ern mit De-Industrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung haben das Vertrauen in den Parteienstaat von Beginn an beschädigt. 

    Wird das einmal Erreichte durch den klimafreundlichen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft infrage gestellt, ruft das alte Ängste hervor. Das Abschalten alter Industrien wie dem Kohlebergbau oder die Autoproduktion mit Verbrennermotor muss man sich erst einmal leisten können. 

    AfD-Gewinn bei der Europawahl 2024: Eingerissene Brandmauern

    Das aus all diesen Ursachen gespeiste Gefühl der Zweitklassigkeit gegenüber dem tonangebenden Westen korrespondiert mit der von der AfD bespielten Position des Außenseiters und Schmuddelkindes, das von den anderen Parteien durch Brandmauern getrennt wird. Die Brandmauern wurden „gestern durch den Wähler eingerissen“, sagte der Parteivorsitzende Tino Chrupalla in der Wahlnachlese. „Das funktioniert im Osten nicht, weil man dort eine Politikwende möchte.“

    In der Tat scheint dieser Wunsch bei einem großen Teil der Wähler stärker zu sein als mögliche Vorbehalte, die gegen die AfD sprechen. Zum Beispiel ihre gesichert rechtsextremistischen Bestrebungen, das Spiel mit dem Austritt Deutschlands aus der EU, die Einflussnahme Russlands und Chinas, die Beteiligung am Komplott der Reichsbürger. Die AfD hat nicht nur in allen ostdeutschen Bundesländern mit Ausnahme Berlins die Europawahl gewonnen, sondern auch in Brandenburg, Sachsen und Thüringen die Kommunalwahlen. Allerdings konnten die Blauen bei den Stichwahlen in Thüringen kein Landratsamt und keinen Oberbürgermeisterposten erobern. Dennoch ist Chrupallas Co-Vorsitzende Alice Weidel optimistisch für die drei ostdeutschen Landtagswahlen im Herbst. „Wenn Sie sich die Ergebnisse in Sachsen anschauen, dann wissen Sie, wer den nächsten Ministerpräsidenten stellt.“ Es wäre der schockierende Beweis, dass der Osten anders bleibt. 

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