Herr Seehofer, wir haben ein unglaubliches Geschacher um die EU-Posten hinter uns. Andere Länder haben die Kanzlerin auflaufen lassen. Hat Angela Merkel nicht mehr genug Kraft, um sich auf europäischer Ebene durchzusetzen?
Horst Seehofer: Ach, ich sage Ihnen eines: Die Bundeskanzlerin hat viel mehr Kraft als all jene, die ihre Kraft in Zweifel ziehen. Glauben Sie mir.
Wir meinten eigentlich die politische Kraft von Angela Merkel und nicht die körperliche. Ihre Reaktion zeigt, dass Sie Fragen nach dem Gesundheitszustand von Politikern nicht mögen. Aufgrund eigener Erfahrungen?
Seehofer: Ich bin selber das Opfer vieler, vieler Ferndiagnosen geworden. Deshalb ärgert mich so etwas. Kein Politiker ist so häufig für dienstunfähig erklärt worden wie ich – meistens von eigenen Parteifreunden übrigens.
Dürfen Politiker keine Schwäche zeigen?
Seehofer: Ein Politiker, der ernsthafte gesundheitliche Probleme hat, wird nicht darum herumkommen, sie offenzulegen. Ich habe das 2002 ja selbst erlebt. Damals hatte ich noch sieben Prozent Herzleistung und lag auf der Intensivstation. Aber wir sollten aufhören, in alles und jedes etwas hineinzudeuten.
Was machen Sie an Ihrem 70. Geburtstag?
Seehofer: Ich nehme mir einen Tag frei und verschwinde. Ich möchte keine Empfänge. Nur Zeit mit meiner Familie.
Kein Anlass zum Feiern?
Seehofer: Doch, es ist ja ein stolzes Datum, an dem man auf sein Leben blickt.
Und was sehen Sie da, wenn Sie auf Ihr Leben blicken?
Seehofer: Eine unglaubliche Buntheit. Ich habe sehr viel Glück gehabt.
Sie haben aber auch schwere Rückschläge kassiert und Ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt. Vergisst man das im Nachhinein?
Seehofer: Wir alle neigen dazu, die Vergangenheit zu verklären. Das will ich nicht tun. Für mich ist das ganze Leben eine Baustelle, da gelingt manches besser, manches schlechter. Es gehört zu unserem Leben, dass Fehler passieren, dass es Rückschläge und Schicksalsschläge gibt. Und die muss man verarbeiten. Helmut Kohl hat immer gesagt: Es gibt kein Politikerleben ohne Wunden und Narben. Und wenn Sie das für sich akzeptieren, dann müssen Sie nicht in der Vergangenheit herumwühlen, sondern können aus der Zeit, die Ihnen noch gegeben ist, das Beste machen.
Sie machen seit fast 50 Jahren Politik, was war Ihr schwierigster Job?
Seehofer: Der jetzige. Mit Abstand. Alles, was wir in diesem Ministerium machen, betrifft die Sicherheit und das Leben der Menschen in unserem Land. Hier werden Entscheidungen getroffen, die 83 Millionen Menschen angehen. Das ist eine große Verantwortung. Und aus der Verantwortung erwächst Belastung. Als ich hier antrat, hat mir mein Büroleiter als Erstes gesagt: Herr Minister, deponieren Sie eine schwarze Krawatte in Ihrem Büro. Er meinte damit, dass jeden Moment etwas Schlimmes passieren kann.
Nach dem schönsten Amt brauchen wir nicht zu fragen. Bayern ist laut Ihrer Aussage schließlich die Vorstufe zum Paradies…
Seehofer: …und Ministerpräsident dieses wunderschönen Landes zu sein, ist ja fast königsgleich.
Was hat sich in der Zeit geändert, seit Sie in die Politik gegangen sind?
Seehofer: Alles. Ich war 28 Jahre in Bonn, das war im Vergleich zu heute geradezu gemütlich. Die Gesellschaft hat sich verändert, die Vorstellung von Politik, die Umgangsformen. Jede Generation hat ihre Themen. Ich erinnere mich noch gut, wie meine Eltern in meiner Jugendzeit auf die Beatles reagierten. Das war ein täglicher Kampf im Elternhaus. Und heute gibt es eben wieder eine junge Generation mit anderen Ideen, und da sollten wir Älteren nicht als Vormund auftreten.
Das Mega-Thema dieser Tage ist der Klimaschutz, hat die Union das verpennt?
Seehofer: Ich hatte die ökologische Frage schon in meinen Jahren als Ministerpräsident im Blick. Ich habe zum Beispiel alles dafür getan, dass die dritte Startbahn am Münchner Flughafen nicht gegen den Willen der Bevölkerung gebaut und die Donau nicht zubetoniert wurde. Und ich kämpfe dafür, dass wir die Soziale Marktwirtschaft auch ökologisch ausrichten.
Dann würde Ihnen eine schwarz-grüne Koalition ganz gut gefallen – oder eine grün-schwarze?
Seehofer: Ich bin immer sehr dafür, dass die Schwarzen das Notwendige selber erledigen. Wir wollen bei der Ökologie nicht in einen Wettlauf eintreten oder Parolen übernehmen, sondern als Union selbst mit klaren Konzepten den Erhalt der Schöpfung sicherstellen.
Sie sprechen gerne über die Versprechen, die Sie eingehalten haben. Manches ist aber auch nicht gekommen. Die Maut zum Beispiel. Ärgert Sie das?
Seehofer: Ich verstehe es nicht. Natürlich weiß ich auch, dass man in einem Rechtsstaat ein Gerichtsurteil akzeptieren muss. Aber ich verstehe es überhaupt nicht. Wir zahlen überall und andere bezahlen nichts, wenn sie unsere Autobahnen benutzen.
Aber in anderen Ländern wie Österreich zahlen eben auch die Einheimischen eine Maut…
Seehofer: Das sind jetzt so Feinsinnigkeiten. Fakt ist: Wir wollten die deutschen Autofahrer, die auch eine Maut bezahlt hätten, an anderer Stelle – bei der Kfz-Steuer – entlasten. Und wie wir unsere Steuern gestalten, ist doch immer noch unsere Sache.
Klingt nicht so, als hätten Sie das Thema schon aufgegeben?
Seehofer: Man kriegt nicht in allen Fällen recht, mein Politikerleben wäre ja das erste auf diesem Planeten, das ohne Rückschläge verlaufen würde. Und natürlich macht man auch Fehler. Aber die Maut habe ich nicht endgültig beerdigt. Jetzt lassen wir mal den Rauch verziehen und dann überlegen wir, wie man das gestalten kann.
Ihre Karriere war ein wildes Auf und Ab. Sie wurden als CSU-Chef nicht gerade mit offenen Armen empfangen, haben die Partei zur absoluten Mehrheit geführt und mussten nach einem schwachen Wahlergebnis eher unrühmlich abtreten.
Seehofer: Ich sag ja, das Leben ist eine Baustelle. Ich habe als Politiker nie ein Netz geknüpft, um mich selber für den Notfall abzusichern. Ich wollte mich kraft meiner eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten behaupten. Mir wurde nichts geschenkt und gerade das hat mich motiviert. Ich habe mich immer um eine klare Haltung bemüht. Und dafür bekommt man eben auch mal Ärger. Das ist mein Leben und das macht mir keinen Kummer.
Die CDU steht gerade vor der Frage, wie sie mit der AfD umgehen soll. Die CSU hat das schon hinter sich. Haben Sie einen Tipp für die Schwesterpartei?
Seehofer: Vertrauen in der Bevölkerung gewinnt man durch klare eigene Positionen. Sie werden keinen Erfolg haben, wenn Sie andere kopieren. Wir müssen AfD-Leuten offen die Stirn bieten, wenn sie etwas besonders Unappetitliches tun oder sagen. Abgesehen davon empfehle ich, diese Partei nicht zum Mittelpunkt unserer politischen Auseinandersetzung zu machen.
Ist der Ton insgesamt härter geworden?
Seehofer: Absolut. Wenn ich mir anschaue, wie in sozialen Netzwerken miteinander umgegangen wird, wühlt mich das schon sehr auf. Wenn beispielsweise der Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke im Internet gefeiert wird, dann ist das ein unfassbarer Verfall der politischen Moral, dem wir nicht zuschauen dürfen. Ich will mir das oft gar nicht mehr zumuten und freue mich dann über meine Fähigkeit, abschalten zu können, in die Natur zu gehen oder einfach ein Buch zu lesen. Da kommen Sie dann auf ganz andere Gedanken. Ich gehe auch nicht in Talkshows, weil ich dieses ständige Ins-Wort-Fallen und Übereinander- her-Fallen und gegenseitige Herabsetzen einfach nicht mehr mitmachen wollte. Ich bin sehr für den politischen Streit, und wer mich kennt, weiß, dass da durchaus auch mal die Fetzen fliegen können. Aber persönliche Verunglimpfung ist indiskutabel.
Politiker werden immer häufiger Opfer von verbaler, aber auch körperlicher Gewalt. In Bayern treten viele Bürgermeister nicht mehr an. Was hat das für Folgen?
Seehofer: Das ist ein ganz ernster Vorgang. Die Verrohung, der Verfall von guten Sitten und der Moral ist ein gesellschaftliches Problem. Es geht ja noch weiter, auch Behördenleiter, Rettungskräfte und Polizei werden angefeindet. Und da hat das Internet viel dazu beigetragen. Die Sprache ist eine ganz andere, wenn Sie etwas in die Tastatur tippen, als wenn Sie jemandem von Angesicht zu Angesicht begegnen. Es hat auch etwas mit dem Freizeitverhalten zu tun. Früher waren wir als Kinder viel draußen und einmal im Jahr ist man dann vielleicht ins Kino gegangen.
Was haben Sie dann angeschaut?
Seehofer: Die Karl-May-Filme natürlich.
Ihre Lieblingsfigur?
Seehofer: Schon der Old Shatterhand. Ein bisschen Schmackes, die Faust – das hat mir schon gefallen. Wir hatten eigentlich eine schöne Kindheit, karg aber schön, obwohl wir nix anderes hatten als die Natur.
Was machen Sie eigentlich, wenn die Zeit in der Politik vorbeigeht?
Seehofer: Meine Frau hat schon gesammelt, welche Museen sie besuchen möchte. Das machen wir miteinander. Ganz oben steht das Haus der Bayerischen Geschichte in Regensburg. Sie glauben gar nicht, welche banalen Sehnsüchte entstehen, wenn Sie so lange Politik machen. Ich war früher in zwei Sportvereinen, wir haben Handball gespielt – wunderschön. Dann bin ich mit 30 Jahren in den Bundestag und vieles andere kam zu kurz. All das, was jahrzehntelang unterbelichtet war, ist jetzt noch ein Ziel für mich.
Klingt furchtbar, wenn man nicht einmal in Ruhe abends ein Bier trinken gehen kann.
Seehofer: Am Anfang haben Sie die Zeit für so etwas gar nicht. Irgendwann kommt der Bekanntheitsgrad dazu, da sind Sie dann nicht mehr privat. Das ist mir zum ersten Mal als Gesundheitsminister mit meinen Kindern auf Mallorca passiert. Das war eine emotional sehr aufgewühlte Zeit damals. Da geht es ja dann auch um Sicherheitsfragen.
Also könnten wir nach diesem Interview nicht noch in den Biergarten gehen?
Seehofer: Doch. Ich bin hier kein Gefangener. Ich könnte irgendwo rausschleichen und die Kanzlerin da drüben besuchen. Aber die Sicherheitsleute würden das mitkriegen und uns begleiten.
Sie können von hier aus sehen, ob bei Angela Merkel noch Licht brennt?
Seehofer: Ja, wenn wir in einen anderen Flügel gehen. Ich habe von hier alles im Blick. Da unten ist der Hubschrauberlandeplatz, ich bekomme also immer mit, wenn meine Nachbarin ausgeflogen ist.
Das Kanzleramt wird gerade zur Baustelle…
Seehofer: …ja, aber wir bauen hier auch. Und zwar höher.
Hat sich Ihr Verhältnis zu Angela Merkel wieder entspannt?
Seehofer: Wir hatten zwei Konflikte. Zwei! In all den Jahren. Die Kopfpauschale im Gesundheitswesen und die Flüchtlingspolitik. Ansonsten haben wir immer sehr gut zusammengearbeitet. Ich kann mir noch gar nicht vorstellen, wie es ohne sie sein wird. Sie ist eine sehr, sehr starke Politikerin.
Gibt es Dankbarkeit in der Politik?
Seehofer: Ich will nicht jammern. Mir ist etwas geschenkt worden. Das ist unglaublich groß und ich hatte unglaublich viel Glück, vor allem mit persönlichen Begegnungen. Wenn mich der Theo Waigel nicht zum Franz Josef Strauß mitnimmt in die alte Staatskanzlei, hätte ich ihn wahrscheinlich nie persönlich kennengelernt. Waigel hat mich auch zu Helmut Kohl gebracht. Als wir hingefahren sind, hat er mir geraten: „Du kannst fei schon was sagen.“ Und auf dem Rückweg meinte er dann: „So viel hättest du jetzt auch wieder nicht sagen müssen.“ Verstehen Sie: Es geht um Menschen, die nicht nur auf sich selbst schauen, sondern auch andere fördern. Waigel hat uns Jungen gesagt: Macht nicht alles, werdet keine Allerweltspolitiker, sondern konzentriert euch auf ein Fachgebiet, dann wird man euch zuhören. Das war goldrichtig.
Was war der größte Moment in der Politik?
Seehofer: Die Wiedervereinigung, weil wir mit allen Fasern dabei waren. Mit der Jungen Union sind wir oft auf der Transitstrecke nach Berlin gefahren, immer recht fröhlich, aber wenn die DDR-Volkspolizisten kamen, dann herrschte absolute Ruhe im Stall, da war blanke Angst. Ich habe heute noch zwei Mauersteine hier vom Brandenburger Tor.
30 Jahre nach dem Mauerfall scheint das Land wieder gespalten zu sein.
Seehofer: Die Parteienlandschaft überall in Europa verändert sich radikal, wird immer komplizierter. Trotzdem leben wir in der stabilsten Demokratie, die es jemals in Deutschland gab. Und ich behaupte, die Bürger sind so mündig wie nie. Das führt zu einer Vielfalt von politischen Strömungen. Das alles als Partei unter ein Dach zu bekommen, ist schon ein Kunstwerk. Das haben wir bisher noch nicht so richtig zustande gebracht.
Wie wollen Sie die jungen Leute von den Grünen zurückholen?
Seehofer: Bei Fridays for Future wird eine wirkliche Zukunftsangst der jungen Menschen sichtbar. Was die Wissenschaft prognostiziert, das transformieren sie auf ihr Leben. Und aus deren Sicht ist 2030 oder 2050 mitten in ihrem Leben. Deshalb habe ich auch nie verstanden, dass die jungen Leute kritisiert werden, wenn sie für ihre eigene Zukunft auf die Straße gehen – auch wenn das mal während der Schulzeit ist. Wir haben damals übrigens auch nicht jeden Tag den Weg in die Schule gefunden.
Aber die Union hat offenbar nicht die passenden Antworten für diese Generation.
Seehofer: Die Zeiten, in denen wir den meisten Zuspruch bei jungen Leuten hatten, liegen nicht im Neandertal. Aber es stimmt, wir müssen uns in manchen Themen konzeptionell verbessern. Dass wir beim Thema Ökologie nicht die beste Performance hatten, das kann man im Ernst nicht bestreiten. Das hat auch Markus Söder als Chef der Regierung in Bayern erkannt. Ich habe ihm mal gesagt: Die öffentliche Wahrnehmung der Partei kannst du nur von der Spitze her prägen. Und das macht er und das ist gut.
Macht CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Sache auch gut?
Seehofer: Ja.
Aber sie wirkt schon angezählt.
Seehofer: Jeder Politiker kennt das. Es geht mal bergauf, mal bergab. Es gibt, glaube ich, niemanden, der so viel Auf und Ab erlebt hat wie ich. Darum bin ich da sehr gelassen. Annegret Kramp-Karrenbauer kann das. Und bei ihr ist für mich eines ganz wichtig: Sie hat eine menschliche Ader. Das ist für einen Politiker ein Schatz, der durch nichts ersetzt werden kann.
Wie erklären Sie sich dann die schlechten Umfragewerte?
Seehofer: Helmut Kohl hat 16 Jahre regiert und er stand vor Wahlen – im übertragenen Sinne – mehrmals mit dem Rücken zur Wand. Dann hat er die Wahl doch gewonnen und jede Diskussion war erledigt. So einfach ist das.
Seit Seehofer und Merkel nicht mehr Parteichefs sind, herrscht immerhin wieder Frieden in der Union…
Seehofer: Ja, aber der Friede alleine hat uns von den 26 oder 27 Prozent auch nicht weggebracht. Der Zusammenhalt ist wichtig, ersetzt aber nicht, was ich gerade gesagt habe. Der Idealfall ist: Personal stimmt, Konzeption stimmt und der Zusammenhalt. Und noch mal: Es wird dauernd so getan, als hätten Angela Merkel und ich pausenlos gestritten, aber wir hatten über all die Jahre nur zweimal Streit.
Aber genau das ist hängen geblieben. Finden Sie das ungerecht?
Seehofer: In der Debatte um die Zurückweisung an der Grenze wurde ich zum „Gefährder“ abgestempelt, und zwar zum Gefährder der Großen Koalition, sogar von eigenen Parteifreunden. Erst waren alle für die Zurückweisung, aber im entscheidenden Moment war davon keine Rede mehr. So etwas haben schon weitaus größere Politiker als ich erlebt.
Die Diskussion um die Seenotrettung zeigt, dass die Flüchtlingsfrage noch lange nicht gelöst ist. Sie kennen Italiens Innenminister Matteo Salvini gut. Können Sie bei ihm ein gutes Wort für die Kapitänin der SeaWatch, Carola Rackete, einlegen?
Seehofer: Ich kenne ihn aus mehreren Begegnungen, aber unsere Wege haben sich getrennt, weil er sich sehr weit nach rechts außen bewegt hat. Das ist für mich keine Vertrauensbasis.
Halten Sie es für gerecht, dass Rackete festgenommen wurde?
Seehofer: Wir sind immer schnell bei der Hand, anderen Ländern zu sagen, was sie falsch machen. Die Entscheidung, was mit der Kapitänin passiert, muss die italienische Justiz treffen. Der große Skandal an diesem Fall ist doch, dass die Europäische Union in der Flüchtlingspolitik katastrophal versagt hat. Es steht außer Frage, dass Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden müssen. Das ist eine christliche Pflicht. Wir nehmen übrigens von jedem Schiff der Seenotrettung, das in Italien ankommt, Menschen auf. Insgesamt kommen jeden Tag die Menschen von umgerechnet zehn Schiffen nach Deutschland. Uns braucht niemand vorzuwerfen, dass wir eine inhumane Politik machen. Aber wir können das Problem nicht alleine lösen.
Da ist es nicht gerade förderlich, dass Politik immer mehr von Emotionen bestimmt wird und viele Leute gar nicht mehr nach echten Lösungen fragen.
Seehofer: Nein, nein. Die Bevölkerung ist mündig und aufgeklärt. Das lasse ich mir nicht ausreden. Das Entscheidende sind die Inhalte der Politik. Die lassen sich durch Inszenierungen nicht ersetzen und auch nicht durch Personen. Wenn dahinter eine Leere ist, dann reicht das nicht. Ich habe in meiner Rede zur Ehrenbürgerwürde in Augsburg gesagt, worauf es mir ankommt: dass wir Bleibendes schaffen. Die Uniklinik Augsburg ist etwas Bleibendes. Für Augsburg und für ganz Schwaben. Genauso wie der ICE von München nach Berlin über Ingolstadt für die Region Ingolstadt etwas Bleibendes ist.
Lassen Sie uns zum Schluss noch ein bisschen über Humor reden…
Seehofer: Ja gerne. Ich bin, wie Sie wissen, für Ironie und Hintersinn zuständig.
Was immer wieder mal für Irritationen sorgt. Zuletzt ging es um Ihre Aussage, dass Gesetze möglichst kompliziert sein müssen.
Seehofer: Ach ja, das war auch wieder so ein Kasperltheater. Und wenn Sie das jetzt in diesem Interview verwenden, dann kann das gleich den nächsten Shitstorm auslösen. Wir beschließen acht Gesetze, ein Teil davon wird diskutiert. Nur das wichtigste, aber komplizierteste wird einfach durchgewunken. Und da sage ich also erkennbar ironisch, dass man daraus als Politiker ja nur den Schluss ziehen kann, dass Gesetze möglichst kompliziert sein müssen, wenn man sie reibungslos durchbekommen will…
Ist es in Berlin weniger lustig als in München?
Seehofer: Ja, es ist schon humorloser und unnachsichtiger. Das hat sich mit dem Einzug einer neuen Rechtsaußen-Partei ins Parlament noch mal verändert. Was mich an diesen Leuten stört, ist der moralische Verfall in der Auseinandersetzung, das Lächerlichmachen von Personen und die Systemkritik. Dem müssen wir als Demokraten mit aller Macht entgegentreten.