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Krieg in der Ukraine: Deutsche Vertriebene und ihr besonderer Blick auf die Ukraine-Flüchtlinge

Krieg in der Ukraine

Deutsche Vertriebene und ihr besonderer Blick auf die Ukraine-Flüchtlinge

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    Krieg und Vertreibung: Die 92-jährige Ukrainerin Tatiana Tichonovna steht vor den Trümmern ihres Wohnhauses. Ein Bild, das bei Vertriebenen aus dem Zweiten Weltkrieg Emotionen auslösen dürfte.
    Krieg und Vertreibung: Die 92-jährige Ukrainerin Tatiana Tichonovna steht vor den Trümmern ihres Wohnhauses. Ein Bild, das bei Vertriebenen aus dem Zweiten Weltkrieg Emotionen auslösen dürfte. Foto: Michal Burza, dpa (Archivbild)

    Heute sind die Bilder in Farbe. Ein ukrainisches Mütterchen klagend vor ihrem zerstörten Haus, vor den Trümmern ihrer Existenz. Die Fotos, die Not und Elend der Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkrieges dokumentieren, sind fast alle schwarz-weiß. Doch sie gleichen den aktuellen Aufnahmen frappierend, sind Ausdruck von Hilflosigkeit und Verlorenheit.

    Eine Parallelität, die seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gerade den noch lebenden Zeitzeugen, aber auch deren Kindern und Enkeln, die mit den Fluchterzählungen in der Familie aufgewachsen sind, bewusst wird. "Die Bilder aus der Ukraine erinnern an die eigene Flucht in einer nicht kalkulierbaren Kriegssituation, an die Angst vor einer unbekannten Zukunft, an den Verlust der Heimat, von Familienangehörigen, an die eigene Wehrlosigkeit den Ereignissen gegenüber", sagt Katrin Boeckh im Gespräch mit unserer Redaktion. Die Professorin, die an der Ludwig-Maximilians-Universität München lehrt, ist Expertin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte. Sie leitet eine neue Forschungsstelle für Heimatvertriebene am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und der Universität Regensburg, die seit Herbst 2022 personell voll ausgestattet arbeitet. 

    Die Historikerin Katrin Boeckh leitet die Forschungsstelle für Heimatvertriebene am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und der Universität Regensburg.
    Die Historikerin Katrin Boeckh leitet die Forschungsstelle für Heimatvertriebene am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung und der Universität Regensburg. Foto: Neverflash.com

    Die Historikerin Boeckh forscht seit Jahren intensiv zur Zeitgeschichte der Ukraine, der Sowjetunion und des Balkans. Als einen der wissenschaftlichen Schwerpunkte der Forschungsstelle nennt Boeckh die "Weitergabe von Vertreibungstraumata in die nächste und übernächste Generation". Die Vertriebenen-Vereine, die alle unter Nachwuchsmangel litten, seien durch die Flucht aus der Ukraine "richtiggehend in Bewegung gekommen, weil sie die Traumatisierung anrührt und sie besonders durch die eigene Geschichte sensibel dafür sind".

    Die Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine ist groß

    Ein Prozess, den der Bundesvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Bernd Posselt, vorantreiben will. "Schon als 1999 Tausende von Menschen aus dem Kosovo auf der Flucht vor dem Jugoslawienkrieg nach Deutschland kamen, war die Hilfsbereitschaft in

    Bernd Posselt, Sprecher der Sudetendeutschen Landmannschaft, spricht von großer Hilfsbereitschaft unter Sudetendeutschen angesichts der Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine.
    Bernd Posselt, Sprecher der Sudetendeutschen Landmannschaft, spricht von großer Hilfsbereitschaft unter Sudetendeutschen angesichts der Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine. Foto: Karl-Josef Hildenbrand, dpa (Archivbild)

    Und auch jetzt wieder sei die Solidarität mit den Menschen aus der Ukraine groß. Posselt: "Schon kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen Ende Februar haben wir entschieden, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj den Sudetendeutschen Karlspreis 2022 zu verleihen." Sehr früh habe man für die ersten Flüchtlinge private Unterkünfte bei sudetendeutschen Familien vermittelt und Hilfslieferungen über die rumänische Grenze in die Ukraine organisiert. "Wir haben dann die Bildungsstätte Heiligenhof in Bad Kissingen, die sich in Trägerschaft der Stiftung des Sudetendeutschen Sozial- und Bildungswerks befindet, geschlossen, um sie für Ukrainerinnen und Ukrainer zu öffnen." Die Dachorganisation, der Bund der Vertriebenen, engagiert sich ebenfalls. Der Verband berät Neuankömmlinge aus der Ukraine in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in seinen Migrationsberatungsstellen. 

    Trifft der Vorwurf, dass die ukrainischen Flüchtlinge mit weit offeneren Armen empfangen wurden als die Menschen, die ab 2015 aus Syrien nach Deutschland kamen? "Es ist nicht leicht, Empathie quantitativ zu vergleichen", antwortet Boeckh. Natürlich gebe es Unterschiede. Aus der Ukraine kämen vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, während die meisten Männer die Heimat verteidigen würden. Auch wisse man im Ukraine-Konflikt, "wer der Angreifer und wer der sich Wehrende und das eindeutige Opfer ist." Im syrischen Fall sei das aus der Entfernung schwerer zu verstehen gewesen. Zudem gebe es eine größere kulturelle Nähe, da die Ukraine, in der auch Juden und Muslime leben, "ein christlich geprägtes Land" sei. 

    Katrin Boeckh registriert ein wachsendes Interesse an Familiengeschichte

    Aufmerksam registriert Boeckh eine neue Bereitschaft, in die Vergangenheit zu schauen: "Wir stellen fest, dass die zweite und dritte Generation der Vertriebenen ihre Familiengeschichte wieder aufnimmt, die nach dem Krieg niemanden interessiert hat, weil in dieser Zeit jeder mit dem eigenen Überleben beschäftigt war", sagt Katrin Boeckh. Immer mehr Bücher würden sich mit der Flucht der Großeltern oder Eltern beschäftigen: "Viel kommt in dieser Schilderung zum Vorschein, was unsere Forschungsstelle interessiert: Die unterschiedlichsten Emotionen, die intergenerationelle Weitergabe von Fluchterfahrungen und das Bedürfnis, dies persönlich aufzuarbeiten." 

    Eine Reflexion, die offensichtlich geeignet ist, generell Empathie für Kriegsflüchtlinge zu wecken. 

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