20 Jahre World Wide Web, das sind 20 Jahre Pornografie, Diebstahl geistigen Eigentums und Selbstdarstellung. 20 Jahre WWW, das sind auch 20 Jahre Freiheit, schrankenloses Wissen und weltweite Freundschaften. Innerhalb dieses Spannungsbogens verläuft bis heute die Diskussion über Segen und Fluch des Internets. Vielleicht fällt die Kritik manchmal so vernichtend aus, weil an das World Wide Web so hohe Erwartungen gerichtet sind und waren.
Schon in den 20er und 30er Jahren träumte der Augsburger Dramatiker Bertolt Brecht angesichts des aufkommenden Radios von einem Apparat, der zugleich Sender als auch Empfänger sein könnte. Der sozialistische Brecht wollte aus dem Radio eine „wirklich demokratische Sache“ machen. Dazu müsste jedoch der Austausch ermöglicht werden: „Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens (...) er wäre es, wenn er es verstünde, (...) den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen.“ Jahrzehnte später wurde dies im Internet Realität.
Welch Revolution (!) dies war und noch immer ist, gerät bereits heute in Vergessenheit. Denn Informationen flossen bis vor wenigen Jahrzehnten hauptsächlich in eine Richtung. Die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung blieb dem Großteil der Bevölkerung verwehrt. Heute kann jeder eine Homepage betreiben oder Massen über Facebook mobilisieren. Mit welchem Ergebnis auch immer: Galten soziale Netzwerke und moderne Handys im „Arabischen Frühling“ als Katalysatoren der Revolution, organisierten sich auch in London marodierende Jugendliche auf diese Weise. Selbst Minister können dieser Tage über Plagiats-Plattformen gestürzt, Regierungen durch die Enthüllungsseite Wikileaks unter Druck gesetzt werden.
Etwa 40 Jahre nach Brecht, 1970, griff der Kaufbeurer Lyriker Hans Magnus Enzensberger dessen Idee in seinem „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ wieder auf. In dem Essay sehnte Enzensberger ein Medium herbei, das „durch einen einfachen Schaltvorgang“ die Teilnahme aller ermögliche. Denn schon damals stellte er fest, dass die neu aufkommenden Medienapparate wie Kopierer oder Videokameras jedermann zugänglich und „ihrer Struktur nach egalitär“ wären. „Tendenziell heben die neuen Medien alle Bildungsprivilegien, damit auch das kulturelle Monopol der bürgerlichen Intelligenz auf.“ Dieser Satz freilich wurde niedergeschrieben von einem marxistischen Schriftsteller zur Zeit der 68er-Bewegung, die das gesamte System in Frage stellte.
Dass sich auch viel Banales sammelt in einem Netzwerk, das jedem das Wort erteilt, wollte Enzensberger damals noch nicht sehen. Vielmehr pries er die „emanzipatorischen Fähigkeiten“ der elektronischen Medien. Die von ihm bereits erkannte Möglichkeit, dass die neuen Medien vor allem der Freizeitgestaltung unterworfen sein könnten, lastete er nur der Elite an, die die Masse bewusst niederhalten wolle.
Im Jahr 2000 äußerte sich der gleiche Hans Magnus Enzensberger leiser und zurückhaltender. Seine eigenen Heilsversprechungen sah er an der Netzrealität zumindest teilweise gescheitert. Und das hatte Gründe. Schließlich hatte der vom Marxismus Abgewandte das real existierende World Wide Web kennenlernen dürfen. Selbstironisch, jedoch ohne seinen Namen zu nennen, urteilte er in dem Essay „Das digitale Evangelium“ über seinen „Baukasten“: „Doch führte der Versuch des Verfassers, die Medienpraxis zu überholen, zu allerhand Erwartungen, die heute naiv anmuten. Vielleicht empfiehlt sich 30 Jahre später eine gewisse Nüchternheit.“
Denn ein Blick in Statistiken entlarvt, wie das Netz genutzt wird. „The Internet is for porn!“, lautet ein beliebter Satz im World Wide Web. Keine Begriffe werden in Google häufiger gesucht als „Sex“ und „Porno“. Verschiedene Schätzungen kommen zu dem Ergebnis, dass bis zu 35 Prozent aller Netzinhalte aus Pornografie bestehen und diese Prozentzahlen in etwa auch den Anteil von Pornos am gesamten Datenvolumen ausmachen. Darauf folgen Verkaufsseiten, Reiseseiten und reine Werbeseiten. Nur etwa zwei Prozent aller Homepages dürften die von Enzensberger ersehnten Bildungsinhalte anbieten.
Wer jetzt sagt: „Ich habe es schon immer gewusst. Das Netz ist böse“ – den würde Enzensberger wohl einen Propheten des Untergangs nennen: „Die beiden Fraktionen folgen einem bekannten religionsgeschichtlichen Muster. Auf der einen Seite finden wir die Apokalyptiker, auf der anderen die Evangelisten.“ Die Evangelisten sind für Enzensberger jene Fortschrittsgläubigen, die im Internet die Lösung aller Probleme sehen: „In mehr als einer Hinsicht hat ja der technische Fortschritt die Nachfolge der Offenbarungsreligionen angetreten. Heil und Unheil, Segen und Fluch lesen die Auguren seit der Aufklärung nicht mehr in den heiligen Schriften, sondern aus den Eingeweiden der technischen Zivilisation.“ Ein Satz, der an die messianisch inszenierten Auftritte des Ex-Apple-Bosses Steve Jobs erinnert. Lange Warteschlangen vor Verkaufsläden beim Erscheinen des neuesten iPads ergänzen das Bild.
Doch was zeigt dieses Bild? Zeigt es nicht, dass der Markt längst das Internet erobert hat? Dass weniger Idealisten und Romantiker das Netz gestalten, sondern Designer und Programmierer großer Firmen wie Facebook, Google und Apple? Jan Fleischhauer kam in seiner Kolumne auf Spiegel Online (das nicht ohne Ironie die Nachfolge des Spiegels als Leitmedium angetreten hat) zu folgendem Schluss: „Das Internet mag alles Mögliche revolutioniert haben, aber die Bedingungen kapitalistischer Warenproduktion, wo jeder Leistung eine Entlohnung gegenübersteht, hat das Netz nicht geändert. Der Kapitalismus war schon immer sehr einfallsreich, wenn es darum ging, seine Kunden zur Kasse zu bitten. Dieser Umbruch steht noch aus."
Eigentlich hat sich nichts verändert. Der Kapitalismus siegt, belässt jedoch in der Realität wie im Internet noch immer genug Nischen für Weltverbesserer, Glücksritter und Romantiker. So fällt ein Fazit zu 20 Jahren World Wide Web erstaunlich einfach aus: Denn mit dem Netz ist es wie mit dem echten Leben. Es kommt darauf an, was man daraus macht. Von Niko Steeb