Erst als sich Jesuitenpater Klaus Mertes, damals Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, Anfang 2010 per Brief an ehemalige Schüler wendet, kommt etwas in Bewegung. „Ihr bedroht uns nicht, wenn Ihr redet, sondern Ihr helft, die Missstände aufzuklären“, schreibt er und bittet um Verzeihung. Kurz darauf setzt eine nicht enden wollende Welle von Enthüllungen ein.
2010 markiert eine Zäsur in Deutschland: Plötzlich wurde massenhafter, systematischer (sexueller) Missbrauch – nicht nur, aber vor allem – in kirchlichen Einrichtungen publik, nachdem jahrzehntelang verdrängt und vertuscht worden war. Die Öffentlichkeit reagierte geschockt und wütend. Und insbesondere die katholische Kirche verlor Glaubwürdigkeit und Einfluss. Ungeachtet aller ihrer Aufklärungs- oder Präventionsbemühungen, bei denen sie – auch das gehört zur Wahrheit – teils deutlich weiter kam als nicht-kirchliche Organisationen.
Missbrauchsskandal: Dank des Mutes Betroffener gab es Fortschritte
15 Jahre nach Beginn dessen, was als „katholischer“ Missbrauchsskandal in Deutschland traurige Geschichte schrieb, muss man trotzdem ein bitteres Fazit ziehen. Die Aufarbeitung ist nicht gescheitert, wie die Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ meint, jedoch wurde Chance um Chance vertan: von der katholischen und der evangelischen Kirche – und vom Staat.
Vor allem dank des Mutes und der Hartnäckigkeit Betroffener konnten Fortschritte erzielt werden. Sie waren schwer erkämpft. Hätte es diese Betroffenen nicht gegeben, das Vertuschen und ein zynisches Spiel auf Zeit – viele Opfer sind alt und am Ende ihrer Kräfte – wäre weiter- und aufgegangen. Betroffene sahen und sehen sich mächtigen Organisationen, undurchsichtigen Strukturen oder einer beschämenden Verständnislosigkeit gegenüber. Man glaubte ihnen nicht, re-traumatisierte sie und machte sie gar zu „Tätern“ – sie seien es, die „die“ Kirche mit ihren Vorwürfen in den Dreck zögen.

Bitter für Betroffene, und zwar ausdrücklich nicht allein jener aus kirchlichen Kontexten: Vieles kam und kommt zu spät, war und ist zu unkoordiniert, reichte und reicht nicht aus. Nach wie vor liegen nicht für jedes katholische Bistum, geschweige denn für jeden evangelischen Kirchenkreis, belastbare Fakten zu Fall- und Täterzahlen vor. Gutachten und Studien, so es sie gibt, sind von unterschiedlichster Qualität. Den Systemen freiwilliger „Anerkennungsleistungen“ mangelt es an Einheitlichkeit und Transparenz. Statt wie in Österreich, wo bereits 2010 eine unabhängige Opferschutzkommission und -anwaltschaft eingerichtet wurde, hat man in Deutschland Betroffene oft alleingelassen. Nicht zuletzt: Hätten Rücktritte als Zeichen der Verantwortungsübernahme die Regel sein sollen, blieben sie die krasse Ausnahme.
Der Staat hat es sich viel zu leicht gemacht
Bitter der Umgang des Staates mit dem Jahrhundertskandal: Er hat es sich viel zu leicht gemacht. Er beließ es bei zaghaften, bisweilen symbolischen Schritten und überließ den Organisationen Aufklärung und Aufarbeitung. Dabei hätte er, angesichts der Dimensionen der Missbrauchsproblematik, beständig eine unzweifelhaft unabhängige Aufklärung und Aufarbeitung einfordern und ein Fonds- oder Stiftungsmodell für Entschädigungen auf den Weg bringen müssen. Hätte.
Besonders bitter: 15 Jahre nach dem Mertes-Brief ist das öffentliche Interesse spürbar gesunken. Man kennt das von anderen Themen, etwa dem Ukrainekrieg, Stichwort „Kriegsmüdigkeit“. Das mag in gewisser Weise nachvollziehbar sein – hinnehmbar ist es nicht.
Die katholische Kirche und alle anderen institutionalisierten Konfessionen sollten sich vor Scham selbst auflösen - nicht nur in Deutschland! Gläubige können sich, denke ich, auch ohne vorgegebene hierarchische Strukturen finden und organisieren. Von Sekten will ich damit sicher nicht sprechen!
Es sind nicht nur die Institutionen, es sind auch die sogenannten "Gläubigen". Sie tragen eine Mitverantwortung. Von Muslimen erwarten wir, dass sie sich vom Islamismus distanzieren. Von Katholiken kann man auch erwarten, sie mal den Mund aufmachen.
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